Ein Superterrorist in der Hafenstadt?

Kurzgeschichte zum Thema Terror

von  Koreapeitsche


Die Hafenstadt war eine beliebte Studentenstadt. Es gab hier eine Uni, eine Fachhochschule sowie eine Kunsthochschule. Hier schrieben sich besonders viele Hamburger ein, denn hier konnten sie sowohl in Ruhe studieren, als auch Segelsport und Strandpartys miteinander verbinden. Dementsprechend gab es ein ausgeprägtes Nachtleben in dieser Stadt mit einer großen Auswahl an  Discotheken für die Nachtschwärmer. Es gab diverse Cafés, Kneipen, einen kleinen Rotlichtbezirk sowie eine überschaubare Rockerszene.
Schließlich schrieb sich Mohammed, ein Ägypter, der fließend Arabisch und Deutsch sprach, an der Fachhochschule der Hafenstadt für den Studiengang Elektrotechnik ein. Er bezog zusammen mit anderen Arabischsprachigen eine Wohnung in einem Werftarbeiterstadtteil, wo sie fortan gemeinsam eine WG führten. Der Student fühlte sich wohl in dieser überschaubaren Stadt. Eine Nachbarin in dem rund 7-stöckigen Gebäude nahe der Kreuzung  Preetzer Straße Ecke Ostring beschrieb ihn als sehr stillen und zurückgezogenen Nachbarn. Angeblich schaffte er etwas für das Studium an der Fachhochschule und arbeitete nebenbei als Übersetzer für befreundete Araber, die der Deutschen Sprache nicht mächtig waren. Das war ein gutes Zubrot für die Finanzierung des Studiums. Er begleitete regelmäßig Bekannte zum Sozialamt, die Termine wahrzunehmen hatten. Mohammed übersetzte und dolmetschte, wenn es darum ging, für die Bürokratie den Status der arabischen Klienten zu erfassen. Sie sollten integriert und in Lohn und Brot gebracht werden. Er übersetzte sicher auch Lebensläufe, Zeugnisse, Zertifikate und andere amtliche Dokumente, dolmetschte in Gesprächen mit Amtspersonen. Der Student erhielt sein Honorar nicht vom Sozialamt, denn er war privat für die betroffenen Araber*nnen tätig, die er auf diese Weise unterstützten sollte oder wollte. Vielleicht waren das Freundschaftsdienste oder andere Verbindlichkeiten? Vielleicht war er sogar auf weiteren Ämtern behilflich, im Rathaus, beim Einwohnermeldeamt, bei Rechtsanwälten, vielleicht sogar auf dem Polizeirevier, wenn Bekannte dort Anzeige erstatten oder eine Aussage machen mussten und eine bilinguale Unterstützung erforderlich war, die sowohl Arabisch als auch Deutsch sprach.
Insgesamt war Mohammed gut ein Jahr von 1996 bis 1997 in der Hafenstadt, besuchte regelmäßig eine Moschee im Stadtteil, fuhr in die Discotheken und konnte sich auf dem Rückweg ein Taxi leisten. So manche* Taxifahrer*n wusste, dass Mohammed inzwischen Bergstraßengänger war. Sein Lieblings-Imbiss befand sich nahe der Bergstraße gegenüber vom Kino und war für seine großen Portionen Pommes bekannt. Das war Mohammeds Stammlokal. Und er ging während seiner Kieler Zeit regelmäßig auf Demos in der Innenstadt, besonders auf die Demos, bei denen es um die Probleme im Nahen Osten ging, um die Folgen des Golfkriegs und Erdöl als Devise und weltweit gefragter Rohstoff. Er galt als fleißiger Demogänger. Einmal wurde er beobachtet, wie er im Winter geholfen haben soll, einen verunglückten PKW, der auf den vereisten Kleinen Kiel geraten war, wieder vom Eis zu ziehen. Er soll den Fahrer gekannt haben.
      Doch bald zog es ihn nach Hamburg zurück, wo er an der Technischen Uni sein ursprüngliches Studium der Stadt- und Regionalplanung fortsetzen wollte. Er machte diverse Urlaubsreisen und absolvierte einen Pilotenschein in den USA.

Eines Tages im September krachten zwei Passagierflugzeuge in zwei Wolkenkratzer in New York. Es wurden Fahndungsfotos veröffentlicht. Bald stellte sich heraus, dass einer der Terrorpiloten der Ex-Kieler und Ex-Elektrotechnikstudent war. Er wurde zwei Wochen nach den Anschlägen von einer Mitarbeiterin des Sozialamtes zweifelsfrei als ehemaliger Dolmetscher beim Sozialamt wiedererkannt. Da gab eine Sozialdezernentin bekannt. Wir konnten es bereits zwei Wochen nach den Anschlägen im Nachrichtenmagazin lesen. Temporär war in den Medien von der „Kieler Zelle“ die Rede.
     Sogar die Nachbarin aus dem kleinen Hochhaus erkannte ihn in den Fernsehaufnahmen. Die Frau war geschockt, lernte jedoch, damit umzugehen. Er sei doch immer so nett gewesen. Sie zog erst weg aus dem Haus, als bei ihrem Auto in der Tiefgarage die Scheiben eingeschlagen wurden. Jemand hatte Müll und angeblich Dildos ins Auto geworfen. Das war zu viel für die Frau. Als die Nachbarin ihrem Sohn vom ehemaligen Nachbarn erzählte, kaufte der Sohn sich als Reaktion einen Flugsimulator für den Computer, mit dem er nach Mallorca geflogen sei. Das war eine klare Kompensations- und Übersprungshandlung.

Es gibt trotzdem nur ganz wenige Hinweise in den Zeitungen, die auf den Aufenthalt des späteren Attentäters in dieser Stadt hinwiesen. Alle Zeitungsartikel waren rund zwei Wochen nach den Anschlägen erschienen. Danach wurde der Faden nie wieder aufgenommen. An der Kieler Uni wurde zwar eine Arbeitsgruppe zur „Kieler Zelle“ gegründet. Die Ergebnisse wurden nicht bekannt gegeben. Deshalb schaffte der Fall Raum für Spökenkiekerei. Weshalb hatte Mohammed sich für die zwei Semester gerade Kiel ausgesucht? Weshalb speziell das Fach Elektrotechnik? Niemand weiß, wie ernst Mohammed das Studium genommen hat und ob er Kontakt zu Kommilitonen und Dozenten hatte.

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass er in Kiel radikalisiert wurde. Er wird Bekannte und Kontaktpersonen in Kiel und speziell Kiel-Gaarden gehabt haben. Vielleicht ein entsprechendes Milieu. Es ist ja nicht einmal klar, dass zu dem Zeitpunkt überhaupt die Idee existierte, einen solchen Anschlag zu verüben. Weshalb er sich als ehemaliger Student der Stadt- und Regionalplanung ausgerechnet das Studium der E-Technik ausgesucht hat, ist ebenso wenig nachvollziehbar. Es ist bekannt, dass es an der Fachhochschule einen kleinen Forschungsreaktor gab. Vielleicht war der Reaktor das Ziehpferd für Mohammed?
Erst rund vier Jahre nach seinem Wohn- und Studienaufenthalt in Kiel kam es zu den Anschlägen. 

 In den Wochen nach den Anschlägen werden ganz sicher unzählige Anzeigen, Hinweise und Meldungen bei Polizei eingegangen sein, besonders auf dem Revier in dem Stadtteil, in dem er wohnte. Ein ehemalige Revierleiter der Polizei muss griesgrämig geworden sein. Doch das Gelübte des Schweigens wurde nicht gebrochen. Im Extremfall wurden Hinweise - aus dem Wohnumfeld, von Nachbarn und Einzelhändlern, aus der Religionsgemeinschaft, aus dem Fachhochschulumfeld und aus der Discoszene, sowie Meldungen und Anzeigen, teils vielleicht bereits lange vor den Anschlägen - unterdrückt, da die Polizei nicht wusste, wie damit umzugehen sei. Und sie wurden demnach nicht an die Medien und damit an die Öffentlichkeit weitergetragen. Verantwortlich für die Nachrichtensperre dürften hohe Entscheider bei der regionalen Polizei gewesen sein und ein übergeordneter Entscheider im Innenministerium und anderswo. Gab es sogar eine institutionelle Psychose bei den Mitarbeitern der am stärksten betroffenen Behörden, Ämter und Einrichtungen oder zumindestens starke Verunsicherung? Ließ sich neuerdings alles und wirklich alles mit dem Kampfbegriff Rockeraffäre plattmachen?

Viele Einwohner behaupteten, dass sich in der Folgezeit eine ganze Menge an FBI Beamten in Kiel aufgehalten habe. Auch davon drang nichts über die Medien an die Öffentlichkeit, sodass weiter viel gemutmaßt wurde. Es ist nicht auszuschließen, dass Personen, die mit Mohammed Bekanntschaft geschlossen haben, sich in psychiatrische Behandlung begeben haben, vielleicht bereits 1996/97 und vielleicht erst nach 9/11? Auch darüber herrschte Stillschweigen. Oder die Beteiligten trauen sich nicht, darüber zu sprechen, aus Angst, verhört und bestraft zu werden. Heute herrscht eisige Kälte auf den Ämtern der Stadt. Einige scheinen mit einem verschämten Lächeln zu schweigen.


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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (19.02.22, 09:40)
 Arabischsprechern ->  Arabischsprachigen
Mosche -> Moschee

"Kleler Zelle"?

Kommentar geändert am 19.02.2022 um 09:40 Uhr

 Koreapeitsche meinte dazu am 20.02.22 um 19:33:
Danke Dieter.
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