2002

Cut-Up zum Thema Vergangenheit

von  Terminator

Januar 2002

Am 3.1. fällt mein persönlicher Leitindex um mehr als 20% auf 2154,55 Punkte: das Allzeittief. Es sollte der gefühlt längste mir bekannte Januar sein. Als wäre ich tot, als würde mein unruhiger Geist durch die Welt wandeln, schlaflos, ziellos. Sollte ich weitere 10 Jahre leben, werde wohl Alkoholiker sein, oder in einer Geschlossenen residieren, so meine Prognose bei einer Fragerunde beim Klassentreffen. Ich werde diesen aufgeweckteren Jahrgang verlassen, und mich eins nach Hinten zu diesen im Schnitt ein Jahr jüngeren Halbtoten setzen. Die beiden Abschlussjahrgänge werden die fadesten meiner gesamten Schulzeit sein.

Im Januar 2012 residiert mein persönlicher Leitindex bequem unter der Marke von 8000 - bei einem Allzeithoch von 8189,16 Punkten im September 1997. Alki? Psycho? Mitnichten. Ich bin ein glücklicher Einzelgänger, strotze vor Selbst. Ich vergnüge mich nicht, ich freue mich, und so genieße ich das Leben Tag für Tag, selbst in Momenten der Trauer, Melancholie und Nostalgie.


Februar 2002


Thomas Manns autogeologische Novelle "Tonio Kröger" schlägt ein wie eine sanfte Bombe. Ich schreibe apokalyptische Kurzgeschichten, schiebe aber meinen Tod weiterhin auf. Vielleicht im März. Vielleicht im April. Noch bin ich 19, noch ist der Suizid ein spektakulärer Protest gegen Gott und die Welt. Mit 29 ist ein Suizid ein einsames Unterfangen: um "es" Gott, der Welt, den Mitmenschen zu "zeigen", ist der richtige Zeitpunkt längst vorbei: was hast du denn die letzten 10 Jahre getan? Dir überlegt, ob der Demiurg doch kein so großes Arschloch, und die Welt doch nicht so schlecht ist? Wenn du dich wirklich umbringen wolltest, hättest du es mit 19 getan. So ist ein Freitod mit 29 still und diskret zu bewerkstelligen, denn in diesem Alter ist er - als jugendlicher Selbstmord - fast schon peinlich. Mit 39 kommt der erste altersbedingte Bilanzsuizid - kurz vor 40, nichts "erreicht", nie Glück von Innen gesehen. 


März 2002

Ausgesperrt auf dem Balkon eines Hochhauses, die Fenster vetgittert, kein Telefon, keine Möglichkeit, Hilfe zu rufen. Verhungern oder springen. So stellte ich mir meine Situation damals bildlich vor, eine geglückte Metapher. Der Lebensdurst, die Gier entschied sich für das Verhungern.

Was ist Depression? Trostlose Faulheit? Nein, aufgestaute Wut, die nicht raus darf. Die Gesetze der Moral sind härter als die Gesetze der Physik: was nützt physisches Können, wenn das Dürfen untersagt bleibt? Ja, ich wollte große und harte Taten tun, doch im heiligen Recht, nicht als Verbrecher.


Juli 2002

Das Bürgertum ist eine Klasse, die unbedingt nach unten treten muss, um sich abzugrenzen. Der Kleinbürger gönnt einem nichts. Er würde für eine Mark, eh für 51 Cents töten, wenn er straffrei bliebe - allein damit ein anderer Mensch nicht mehr lebt. Er würde den glücklichen Blick einem aus den Augen auskratzen, die Verliebtheit aus dem Herzen schneiden, aus Gedankenneid einem den Schädel zertrümmern. Gedanken der Zeit halt, damals, weißt du so, bleib locker, kein Stress.


August 2002

Für die breite Masse sind es die weltbewegenden Großereignisse, die fürs Leben im Gedächtnis bleiben: der Mauerfall oder 9/11; autobiographische Kataklysmen wie Geburt oder Tod eines Verwandten markieren Meilensteine und Wendepunkte. Für den feineren Geist sind es immer die Mädchen, die für Brüche und Umbrüche in der Lebensgeschichte sorgen, - und nein, das Verliebtsein ist dazu nicht zwingend erforderlich - das lange Leiden, der Liebeskummer - , denn es reicht schon, ein schönes Mädchen ein einziges Mal gesehen zu haben.

Vor 10 Jahren schien der Baikalsee meiner Psyche ausgetrocknet zu sein, keine Begeisterung schien möglich, und der leise Abgang ins Nichts nur eine Frage der Zeit. Und es regnete nicht gerade in Strömen. Der dichte Wald von einst wurde zu einer Steinwüste, der einst unendlich tiefe See zu einer Grube zum Schuldabladen. 10 Jahre später ist der Wald zu einem Naturpark von Abermillionen Hektar geworden, und auf den meterhohen Wellen des Sees reiten Abertausende junge und hübsche Surfer.


September 2002


Hirndiebe! Vier Jahre zuvor hatte ich ganz andere Vorstellungen davon, wo ich im Herbst 2002 geistig sein würde. Stattdessen immer weitere Abstumpfung. Nach ein paar Jahren chronischer Depression interessiert einen nichts mehr, man hat keine Kraft mehr an Interesse und Begeisterung zu verschwenden. Depression ist high voltage, die Psyche steht unter Strom, - Stress twentyfourseven, Anspannung, die alle mentalen Kräfte in Anspruch nimmt, keine Erholung möglich. Nun stelle man sich vor, es gäbe Schurken, die einen vorsätzlich in eine schwere Depression treiben würden, um ihm Hirn zu stehlen. Ziemlich fiese Schurken, nicht?


November 2002


Es ist der 8.11.1997, und zu mir kommt ein futuristisch gekleideter Typ, so ein Kyle M. (für Möchtegern) Reese, und richtet eine Knarre auf mich. Anstatt zu schießen, sagt er: "Wetten wir, du wirst mich gleich darum bitten!" Ich will aber leben, also nehme ich die Wette an, und er versichert mir zusätzlich noch, meinen Zustand durch keine Horrortrip-Droge aus der Zukunft dahingehend zu verändern, dass ich froh wäre, tot zu sein. "Wenn du mich töten willst, dann schieß, aber ich werde  auf keinen Fall freiwillig darum bitten", sage ich, und er, einer von den Guten, der nur auf ihren Wunsch hin Leute umbringt, lächelt trotzdem. Während ich noch verwundert sein breites Grinsen aus der Zukunft ansehe, gibt er mir ein Video. "Was ist darauf?" frage ich. "Deine nächsten fünf Jahre im Zeitraffer", sagt er, und nachdem ich mir das "Best-of" der nächsten fünf Jahre meines Lebens ansehe, muss ich eingestehen, dass er die Wette gewonnen hat. Peng. 


Dezember 2002

Die Aufbruchshoffnung vom August verflog sehr schnell, schon im September war nichts mehr davon zu spüren. Es sollte alles beim Alten und Dunklen bleiben. Ich würde ja ohnehin bald sterben. Es gab ja ohnehin keine Alternative zum Suizid. Aber die verdammte Neugier. Der Wille, es richtig zu machen, nicht um einem transzendenten Wesen zu gefallen, sondern um die eigene Integrität zu wahren. Bald 20! Es sollte langsam zur Abwechslung doch mal... Das Leben kann doch nicht... Die Welt wird doch nicht so ungerecht sein, und... Doch: sie ist nämlich amoralisch. Wir Menschen, wusste Immanuel Kant, müssen alles selbst machen. Dergleichen (sprich verdientes Glück) passiert auf dieser Welt nicht, wusste Thomas Mann. 



Anmerkung von Terminator:

Gebet um das Jüngste Gericht (6.7.2002)


Die Herrschaft des Drecks über dem Gold.
Seelenschänder, die in Selbstgerechtigkeit
Baden. Herr, komm und richte!

Perverse Menschen. Nicht nach grausamster Tat
Nur ein Bisschen Reue. Kein Schuldbewusstsein.
Böse Herzen. Jesus, komm und richte!

Im teuflischen Akt der Vergewaltigung
Erschaffen sie sich Sklaven. Behandeln Kinder
Wie Eigentum. Herr, komm und richte!

Sie lachen über Tränen der Unschuldigen,
Freuen sich über Unglück der Guten,
Der Sanftmütigen. Jesus, komm und richte!

Die Herrschaft der Gewalt über der Zartheit.
Die Schutzlosen werden missbraucht, misshandelt.
Eine Welt des Grauens. Herr, komm und richte!

Das Grobe, das Abscheuliche, das Ekelhafte
Regiert den Planteten. Das Grausame
Vergewaltigt das Schöne. Jesus, komm und richte!

Die satanistische Welt. Ausgeburten der Hölle
Beanspruchen Recht und Wahrheit für sich.
Das Böse thront. Gott, komm und richte!

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Kommentare zu diesem Text


 harzgebirgler (16.05.22, 15:41)
"Nah ist/ Und schwer zu fassen der Gott./ Wo aber die Gefahr ist, wächst/ Das Rettende auch." (Hölderlin, Patmos)

Kommentar geändert am 16.05.2022 um 15:42 Uhr
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