2003

Innerer Monolog zum Thema Lieblosigkeit

von  Terminator

Januar 2003


Über den Januar 2003 kann ich nur sagen, dass ich ihn in der Silversternacht um Punkt 12 damit begrüßte, dass ich auf einem Feldweg den legendären kleinen Unterschied rausholte, und in den karg gestreuten Schnee pisste.



Februar 2003


Anfang Februar die Katastrophe. Das gefühlte Ende der Raumfahrt. Der Krieg um Ressourcen ist wichtiger, in den Weltraum wird für Jahrzehnte keiner mehr fliegen. Menschen auf dem Mars? Träumerei aus dem vergangenen Jahrhundert. Ich fange mir eine widerliche Halsentzüngung ein, und fiebere temperatürlich mit, als Koch und Wulff ihre verdammten Wahlsiege feiern. Dazu ist der FC Bayern uneinholbar vorn. Russland und China, aber auch Deutschland und Frankreich sind machtlos gegen die sich anbahnende Aggression der USA im Irak. Die, denen die Welt gehört, essen gut und schlafen gut, der Rest hat weder Spaß noch Zuversicht, dass sich die Waage irgendwann wieder Richtung Gleichgewicht bewegt. Man sagt doch: entweder gut essen oder ruhig schlafen, doch die einen haben beides davon, die anderen gar nichts. Der Film "23" läuft im Fernsehen und zeigt, dass selbst die investigativsten verschwörungstheoretischen Nachrichten nur noch kommerziell vereinnahmt werden, und niemanden mehr zu großen Taten antreiben.



März 2003


Es gibt und es gibt. Will heißen: es gibt Christen, die ehrlich auf den Jüngsten Tag warten, die traurig sind, die wissen, wie der Hase läuft, und wollen mit den Karnickeln nichts zu tun haben. Es gibt aber auch jene, die die Sünde lieben, Fussböden nach ihr lecken, und Sonntags in die Kirche gehen. Radikaler als im August 2000 konnte ich nicht mehr werden, es ging nur noch um metaphysische Details: sind das alles noch Menschen? Wenn ja, wie schwer ist dann all die Schuld, die sie auf sich laden? Warum spüren sie keinen Gramm davon auf ihren geistig-moralischen Schultern? Sind das Tiere, nein, Zombies? Automaten, Maschinen in menschlichen Körpern? Von der Matrix steht in der Bibel nichts. Aber ist die Bibel denn unfehlbar? Ist sie ein christliches, oder vielmehr ein antichristliches Buch? Nach der zweiten wochenlangen Halsentzündung atemübungstechnisch außer Gefecht gesetzt, entdeckte ich am 11.3. die Hässlichkeit des Stotterns wieder. Die zwei Jahre zuvor sagte ich entweder gar nichts, d.h. stockte und brach sofort ab, oder schwieg ganz. Woran glaubte ich eigentlich noch? Ich war steinalte 20 und kannte nichts als Depression und innere Emigration.



April 2003


Ich lerne Menschen kennen - in diesem Fall glücklicherweise in einem Chat. Mit jedem neuen kennengelernten Christen stelle ich mir die Frage neu, was das für eine perverse Religion doch sein muss, die aus normalen Menschen so kranke Wichser macht? Oder waren die schon vorher so? Warum zieht diese Religion dann ausgerechnet solche kranken Wichser an? Der abscheulichste Chakakter ist weich zu sich selbst, und hart zu anderen, schrieb Schiller. Sie werten. Sie richten. Sie sind schadenfroh. Geschenkt. Aber leider leider sind sie auch noch verlogen und hinterfotzig. Wie gesagt, gut, dass die Begegnung nur im Chat stattgefunden hat. Sonst hätte ich mich totgekotzt.



Juli 2003


Die erste Hälfte lau, aber warm. Nur der letzte Schultag lässt hoffen: ein süßes Lächeln in der großen Pause, doch es scheint halluziniert zu sein. Die Halluzination erweist sich später als Celine, die ich weiträumig umfahre, weil ich mich selbst für zu durchgedreht halte, um mich mit einem so unschuldig und verspielt erscheinenden Wesen einzulassen.


Die zweite Hälfte verbringe ich in Russland, und nun sind es insgesamt fünf Wochen meines Lebens, die ich in Russland verbringe. Mehr Russe ist nicht: ich wäre Kasachstanrusse in Russland, so wie ich derzeit Russlanddeutscher in Deutschland bin. In Omsk, in der gar nicht so unansehnlichen Innenstadt - dafür sieht alles, was hinter den Grenzen der City ist, sowjetisch-erbärmlich aus - , höre ich ein Lied, das ich fast neun Jahre lang suchen werde, und das sich als das banale "You make me wanna" von Blue erweisen wird.



August 2003


Jeden Tag 35 Grad, Hitzetote im fünfstelligen Bereich. Leverkusen startet gut in die Saison, ich versuche das auch, und es gelingt so gut wie. Doch es müssen schon Stunden auf dem Rad verbracht werden, um der Gravitationskraft der Depression zu entkommen, die immer schwerer wiegt, je länger sie andauert, und das sind zu diesem Zeitpunkt fast fünf Jahre. Gefühltes g: 120 Meter pro Quadratsekunde. Ganz schön schwer, sich aufzurichten, wie etwa auf der Sonne, wenn sie eine feste und kühle Oberfläche hätte, - die Schwerkraft, der Druck von Unten, der zerzerrt, der Zug, der zerdrückt, bis nur noch Ruhe ist, sprich sublimierter Sturm.


Hannover ist schön im Sommer, eine grüne Stadt. Nicht alles war damals schlecht: ich bin mehr Rad gefahren als heute, deutlich mehr.



Oktober 2003


Es hätte wieder einmal. Friede den Hätten, Krieg den Hatten! Nein, Scherz. Ich stand mit leeren Händen da, was keine ungewohnte Situation war. Ich war einsam, was ich auch nie anders kannte. Ich war verzweifelt und tobte innerlich, und war nach Außen die Ruhe selbst.


Zu der Zeit las ich viel über Psychologie, es machte einiges klarer, half aber nicht weiter. Es war eine geistige Sackgasse, in der ich, der langsam zu einem alten Sack werdende Geist, vor und rückwärts Gassi ging, was eine Hundesituation für mich war. Äußerlich fand ich langsam wieder emotional-smalltalkerisch Anschluss, hing mit Leuten rum, auch außerhalb der Schule, versuchte es sogar mit Klassentreffen, hielt aber keins länger als eine Stunde aus.



November 2003


Seit fast drei Jahren sagte ich im Unterricht nichts mehr, und bekam entsprechend mündlich 6. Als ich nur stottern konnte, hatte ich die Wahl, zu stottern, oder den Mund zu halten. Als ich eine Sprechtechnik gelernt hatte, aber die tiefe Depression alle Fortschrittsbemühungen zunichte machte, hatte ich den Anspruch an mich selbst, normal zu reden, wenn oder falls ich den Mund aufmachte. Nun schwieg ich nicht wegen des Stotterns, sondern aus Furcht, zu stottern. Ende November aber, in einer Geschichtsstunde, sprengten sich spontan ein paar Ketten, und ich las die berühmte Rede gegen das Ermächtigungsgesetz aus dem Geschichtsbuch theatralisch vor. Dieses Erfolgserlebnis sollte sich rächen, denn ich machte in den Jahren danach zunächst keinen Unterschied zwischen Vorlesen und Sprechen, und merkte nicht, dass dass das Vorlesen unproblematisch lief, noch keine Garantie für einen normalen Sprachfluss in der freien Rede war.



Dezember 2003


Ein trostloser Ausklang eines gar nicht mal so düsteren Jahres, wie etwa 2002 und 2001. Das Nichtserlebthabensbewusstsein drückend, das Wissen um den nahenden Schulzeituntergang traurig und befreiend zugleich. Ich las Existentialismus und Anthropologie, begegnete Kants Selbstzweckformel erstmals, konnte sie aber nicht auf ihrer begrifflichen Höhe verstehen. Immerhin ließ sich daraus folgern, dass niemand verpflichtet werden kann, sein unlebenswertes Leben weiter zu leben.




Anmerkung von Terminator:

Ich Habe Recht (21.5.2003)


Ich gehe durch die Strassen.
Ich habe Recht.
Ich sehe euch in die Augen.
Ich habe Recht.


Ich denke was ich denke, und habe Recht.
Ich tue was ich tun muss, und habe Recht.


Ich sagte bereits, wie es wirklich ist.
Ich hatte Recht.
Ihr wisst, wie ich euch nenne.
Ich habe Recht.


Ich bin sehr pessimistisch, und habe Recht.
Ich will die Welt vernichten, und habe Recht.


Ein Freund wählte den Freitod.
Er hatte Recht.
Sie würden gerne gehen?
Sie haben Recht.


Ich kenne meine Würde, und habe Recht.
Daraus mache ich kein Geheimnis: Ich habe Recht.


Ihr werdet alle sterben.
Ich habe Recht.
Ihr müsst vernichtet werden.
Ich habe Recht.

Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren

Kommentare zu diesem Text


 harzgebirgler (11.01.24, 14:36)
"Das Höchste
Das Gesetz,
Von allen der König, Sterblichen und
Unsterblichen; das führt eben
Darum gewaltig
Das gerechteste Recht mit allerhöchster Hand.
Das Unmittelbare, streng genommen, ist für die Sterblichen unmöglich, wie für die Unsterblichen; der Gott muß verschiedene Welten unterscheiden, seiner Natur gemäß, weil himmlische Güte, ihret selber wegen, heilig sein muß, unvermischet. Der Mensch, als Erkennendes, muß auch verschiedene Welten unterscheiden, weil Erkenntnis nur durch Entgegensetzung möglich ist. Deswegen ist das Unmittelbare, streng genommen, für die Sterblichen unmöglich, wie für die Unsterblichen.
Die strenge Mittelbarkeit ist aber das Gesetz. Deswegen aber führt es gewaltig das gerechteste Recht mit allerhöchster Hand.
Die Zucht, sofern sie die Gestalt ist, worin der Mensch sich und der Gott begegnet, der Kirche und des Staats Gesetz und anererbte Satzungen (die Heiligkeit des Gottes, und für den Menschen die Möglichkeit einer Erkenntnis, einer Erklärung), diese führen gewaltig das gerechteste Recht mit allerhöchster Hand, sie halten strenger, als die Kunst, die lebendigen Verhältnisse fest, in denen, mit der Zeit, ein Volk sich begegnet hat und begegnet. »König« bedeutet hier den Superlativ, der nur das Zeichen ist für den höchsten Erkenntnisgrund, nicht für die höchste Macht."

(Hölderlin, Pindar-Fragmente)
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram