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2006

Erzählung zum Thema Biographisches/ Personen

von  Terminator


Januar 2006


Das Buch der Bücher, Ciorans "Lehre vom Zerfall", legte sich wie ein weißes Band über den rar verschneiten Jahreswechsel. Die inspirierten Aphorismensammlungen ließen nicht auf sich warten: in "Entkommen" schrieb ich am 9.1: "(14) Lernen bedeutet Gewissheiten zusammenbrechen sehen und mit ihnen zusammenbrechen", und am 10.1: "(29) Im Solipsismus hat das Leben keinen Sinn, weil Sex keinen Sinn hat". Sex ist nun wirklich nicht als Masturbation gedacht, obwohl es in der Menschheitsgeschichte nicht oft über diese hinaus ging. Am 13.1. durchdrang mich: "(35) Jeder Sichtweise ausserhalb des Solipsismus liegt ein Glaube zugrunde".


"Des Todes sterben" fing ich am 23.1. an, und schrieb alle 44 Weisheiten an einem Tag. Ein Lob des Suizids sollte es werden, und wurde ein Zitatenschatz, aus dem noch Generationen schöpfen werden. Ein schamloses Gedicht aus jener Zeit verspottete Rilke, und ich las eine Antitheodizee eines jungen Philosophen Nachnamens Gesang.



Februar 2006


Mit zwei netten Unikollegen feierte ich meinen 23. in einer Russendisko: nie wieder! Laut, langweilig, sinnloses Saufen. Ich begann mit dem Roman "Perverse Zeiten", einer selbsttherapeutischen Maßnahme, die dazu gedacht war, die Welt wieder auszukotzen, die sich mir all die Jahre durch die Sinneseindrücke gewaltsam aufgedrängt hatte. Ein ungewöhnlich kalter Winter ging zu Ende, und mein erstes, bis zum Heroismus fleißiges Semester. 40 Protokolle schrieb ich insgesamt, eine nützliche Qual. Ich lernte viel, denn mein Vorwissen war eher gering. Ich fing vor 3 Jahren überhaupt erst an, mich mit bereits vorphilosophierter Philosophie zu beschäftigen, - in den ersten 20 Jahren meines Lebens philosophierte ich auf der Basis naturwissenschaftlicher Erkenntnisse auf eigene Faust.


"Ich gegen Selbst" hieß meine Aufarbeitung von Ciorans radikaler Skepsis im Rahmen meiner buddhistisch-pessimistischen Weltanschauung. Ich las eine eklige Offenbarung bezüglich des Wesens der eiweißreichen Nahrung, die unsere affigen Vorfahren angeblich zu sich nahmen, um ihr Hirnwachstum zu fördern.



Mai 2006


Was tut ein gequälter Geist, der seinen guten Willen um keinen Preis aufgeben will, nicht alles, um Verbrechen zu rechtfertigen, die er dann doch nicht begeht! Hier die Abrechnungserklärung vom 21. Mai im Wortlaut:


1. Der Sinn des Lebens des selbst-bewussten Individuums ist die Glückseligkeit. Auf dieser Welt ist die Glückseligkeit nicht erreichbar, also das Leben sinnlos.


2. Da das Leben sinnlos ist, brauche ich es nicht ernst zu nehmen. Nähme ich das Leben ernst, hätte ich in jeder moralisch relevanten Betrachtungsweise das Recht auf den Freitod. Die Nichternstnahme des Lebens ist somit keine Flucht vor einer Verantwortung.


3. Ich bin nur physisch an die Welt gebunden; den ursprünglichen Vertrag zwischen der Welt (bzw. Gesellschaft) und mir ("Ich verhalte mich moralisch korrekt und konstruktiv im Sinne von schöpferisch und leistungbringend und als Teil einer Gesellschaft, am Wohlergehen dieser interessiert, und bekomme zumindest die Befriedigung meiner Bedürfnisse und würdige Behandlung durch die Gemeinschaft") hat die Welt gebrochen; ich bin nicht nur nicht mehr an sie gebunden, sondern habe ein Recht auf Schadenersatz.



Juni 2006


"Das Ich ist der konzentrierte, sich selbst bestimmende Wille", schrieb ich am 11.6., und weiter: "Der Wille erschafft die Wirklichkeit durch das Wollen, der Wille reibt sich an der widerspenstigen Materie ab und produziert Erscheinungen, die das Ich ordnet und zu einer konsistenten Welt zusammenfügt".


Am 15.6. wurde mir spontan bewusst, dass ich mein Leben allein verbringen würde. Am 19.6. skizzierte ich in der "Konstruktion der Subjektivität" einen Entwurf eines gemäßigten Solipsismus. Die Überwindung des Ich - noch zu Lebzeiten ins Nirvana zu gelangen - war bereits seit zwei Jahren das höchste ethische Programm.



Juli 2006


Das zweite Semester in Hannover ging zu Ende, die Prüfungsarbeiten waren noch in der Vorlesungszeit erledigt, und es wartete ein wunderbarer Spätsommer auf den von Hoffnung Zerfressenen. Gleich nach der letzten Sitzung ging ich in die legendäre Stadtbibliothek an der Hildesheimer Straße, und lieh mir Esther Vilars dressierten Mann aus. Ich las im Zug, dann auf einem Feld, marschierte zu Fuß, setzte mich hin und wieder hin, und las. Ich war matt noch müd, schaffte in den Tagen darauf die ganze Trilogie, las noch viele andere Bücher. "Hellraiser 5" und "Sin City" lieh ich in einer Videothek aus, in der ich seitdem Stammkunde bin, Spätende Juli oder Frühanfang August. Das waren aber Filme, keine Bücher: Romane lese ich nicht.


Vom vernichtenden Frühsommer hatte ich mich scheinbar erholt, und auch das grauenvolle WM-Finale geriet schnell in Vergessenheit. Mit dem empirischen Beweis des Nihilismus im Rücken konnte ich - was eigentlich? Jetzt könnte es doch losgehen - womit denn? Der Juli endete mit einem Fragezeichen, und einer unerklärlichen - sehr kurzen - Euphorie folgte ein langer Weg der Ernüchterung.



August 2006


Nur Kinder und Greise können im Kino unserer Zeit Schauspieler sein: Christopher Lee, Dakota Fanning. Egal, wen oder was sie spielen, es bleibt nie ein bitterfauliger Beigeschmack, und der Film gefällt mehr, als er vielleicht gut ist. Kaum treten potentielle Sexualtäter auf, wird aus der Potentialität schnell Potenz, und die weibliche Hauptperson muss unbedingt allen zeigen, was für eine geile Schlampe sie ist (nur nicht einen peinlichen Anschein von Unschuld entstehen lassen!), und die männliche Obertype, wie lang ihr Schwanz ist. Wie viele Filme gingen an den banalen Bumsgeschichten zugrunde! Doch Reich-Ranickis weise Worte: "Ich ficke, du fickst, er fickt, wir alle ficken, wir müssen ficken, warum fickt er nicht mit ihr?" haben leider nicht nur einen literarisch anspruchsvollen Klang, sondern auch eine bitterfaulige Aktualität.


Fellinis Satyricon war eine Klasse für sich. Daneben konnten Nachholneugierschauungen wie "Die Insel" oder "Batman Begins" natürlich nur verblassen. An einem geistlosen Abend hing ich in einem Chat rum, und es ist interessant, wie irrelevant explizite Frauenfeindlichkeit wird, sobald man sich selbst Ahmed nennt, und erzählt, alle Frauen seien Schlampen. Mein Ahmed hatte eine Freundin, die ihn verließ, als sein bester Freund 100000 Euro im Lotto gewann. Die Kohle ward schnell verprasst, und das geldgeile Weib wollte plötzlich wieder zurück zu dem guten Ahmed. Was soll ich tun, Leute, ich liebe sie immer noch? - fragte Ahmed in die Runde, und alle solidarisierten sich mit ihm, Jungs wie Mädchen, jung wie nicht mehr so jung. Ein Franz oder Dieter hätte einen auf die Schnauze bekommen, die volle Wucht der Frauenfeindlich-Keule gespürt. Der Normalo ist beim kleinsten Anfall von Sexismus unten durch, dem Orientalo geht jeder Sexismus durch. Wir müssen seine Kultur respektieren, lautet das Argument der Toleranztänzer. Und was meint er zu unserer Kultur: "Ficken, das ist doch eure Kultur!" Einmal kam ich als bester Freund eines Magersüchtigen in denselben Chat, postete zum Spaß Vierzeiler, und wurde aufdringlich aufgefordert, mich doch bitte bei KeinVerlag anzumelden. Ich tat dies, und betrat am 7.8. als "alien" eine für mein damaliges Empfinden sehr fremdartige Welt.



September 2006


Nichts ging: das Radfahren machte keinen Spaß, das Lesen war öde, das Spazierengehen nicht besser, und selbst die unbegrenzten Möglichkeiten des Niedersachsen-Tickets brachten mich nur einmal nach Hann. Münden, aber das war es auch schon. Keine Nordsee, kein Nordhorn. Auch in den Harz bin ich nur einmal gefahren.


Es gibt kein Richtiges im Falschen: man kann sich in der Hölle nicht so verhalten, dass man davon glücklich werden könnte. Heute hieße der Satz: in einer sittlich verkehrten Gesellschaft ist der statutarische Formalismus ein sittlicher Afterdienst. Die Moralität ist mitnichten abgeschafft, sie gilt im Dritten Reich, in der Hölle, und auch auch hier und heute. Wo sie jedoch in Sittlichkeit übergeht, wird sie pervertiert, wenn der sittliche Zustand der Gesellschaft verkehrt ist. Aber zurück zu 2006: egal, was für einen Kopfstand du äußerlich macht, - wenn du tief im Innern unglücklich bist, wird dir kein Vergnügen Lust verschaffen, und erst recht nicht das völlige Fehlen jeden Vergnügens.



Oktober 2006


Ich hatte ja schwer vor, mich in den Semesterferien zu erholen, und im Wintersemester wieder Vollgas zu geben, wie bereits im ersten, um nach vier Semestern den vermaledeiten Bachelor zu machen. Am 4. Oktober spürte ich, dass die Erholungszeit keinerlei Spuren einer Erholung hinterließ. Die Unerträglichkeit der ersten Semesterwoche war kaum zu ertragen. Der Gedanke, den richtigen Zeitpunkt für einen rechtzeitigen Suizid spätestens Anfang 2004 verpasst zu haben, machte sich immer breiter.


Wer Gutes wittert, der lügt. Alles ist schlecht, selbst die Erkenntnis, dass alles schlecht ist.



November 2006


Es war herzlich sehr kalt, und bis zum 20.11. wenig los. Dann brach endlich die zweite expressionistische Welle aus mir heraus: Gedichte, die nicht gut sind, aber in ihrem Nichtgutsein besser, als viele gute Gedichte in ihrem Gutsein sind. Es war ein sadistischer, lebensfroher Expressionismus. Er begann, so weit ich mich erinnern kann, mit der Bergwerk-Parabel "Effizienter", in dem das sisyphische Leben eines vom Guten verratenen guten Menschen in dem als einzige Wahrheit und Wirklichkeit gebliebenen Nihilismus bedunkelt wird. Es folgten furchtbar fruchtbare Tage, bis es mit der lästigen Lyrik sein Ende hatte, und der Geist sich endlich höheren, nämlich philosophischen Dingen zuwenden konnte.


Am 23.11. schrieb ich den Neun-Punkte-Essay "Vernichtung des Willens", in dem ich in einem naturwissenschaftlich aufgeblasenen Buddhismus festhielt: "Der Wille ist die Vakuumenergie des Nichts". Der Wille muss durch ein lebendiges Wesen hindurch, um völlig vernichtet zu werden, er muss sich selbst als sinnlose Begierde erfahren, um in der Zeit aufgerieben und zerstört zu werden. Die Zerstörung als Sinn des Lebens, welches eine Störung des Nichts ist, ein Unfall im absoluten Vakuum.


Am 27.11. verbrach ich: "Was Gott angeht, oder warum der Mensch Gott mal kann" mit den Sätzen: "(4) Gott ist vollkommen, also seiend, nicht werdend. (5) Der Mensch ist unvollkommen, also werdend, nicht seiend". Gott, das vollkommene Wesen, ist selbstredend kein moralisches: "(19) Gott ist die vollkommene Befriedigung der vollkommenen Begierde. (20) Mensch ist die Differenz zwischen Befriedigung und Begierde. (21) Gott ist unendlich geiler Sex". Daher wehte also der Wind. Und der Sinn des Ganzen ist die Aufhebung des Höchsten, wodurch auch das Unvollkommene von seinem Dasein erlöst wäre: "(24) Das Eine ist die Aufhebung von Mensch und Gott".




Anmerkung von Terminator:

Kopfschuss (30.11.2006)


mörderisch geil
sich umzupusten
eine erhabene todesart


dem hirn
eine kugel verpassen
mitten ins herz


sich um(nichts)bringen

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