1 - Keine Skorpione aber eine Mundharmonika.

Groteske zum Thema Katastrophen

von  TassoTuwas

Dieser Text ist Teil der Serie  Das große Windlichtdesaster
Ich schwöre, von den letzten zehn Anrufen hatten fünf mit den Worten "Alles ist aus!" und drei mit "Das ist das Ende" begonnen, bei zweien hieß es, "Die Schwiegermutter kommt" und beim letzten sogar, "Lebe wohl alter Freund".   So ist es in den Kleinstädten, wenn du zwei drei Mal Menschen, die dich überhaupt nicht interessieren, die aber meinen, sich dir mit ihren Allerweltsproblemchen aufdrängen zu müssen, wenn du denen aus Freundlichkeit geduldig zugehört und leichtsinnigerweise dabei verständnisvoll genickt hast, spricht sich das herum, und schon wirst du zu jedermanns Kummerkasten. 

Das Telefon riss mich aus meinen Gedanken. "Es bleibt doch bei Samstag Abend, so gegen sieben, oder...?" "Aber sicher Rudi", sagte ich, obwohl ich einen guten Grund gehabt hätte, kurz und knapp mit, "Vergiss es!", zu antworten, oder finden sie es amüsant, wenn von plötzlich auf gleich die Nachbarschaft kein Wort mehr mit ihnen spricht? Tat ich nicht, stattdessen sagte ich, "Ich wollte euch sowieso noch alle anrufen, weißt du, ihr solltet unbedingt Gummistiefel und Regenschirme mitbringen, ...die Party findet hinter dem Haus statt, ...sozusagen im Freien". 

"Fein...", sagte Rudi, und jetzt beschlich mich doch ein Gefühl der Unsicherheit, es lag keine rechte Begeisterung, kein Schwung in der Art, wie er "fein" betonte, oder eben gerade nicht betonte, "...ihr lasst euch auch immer etwas Besonderes einfallen!" 

"Na ja...", schwächte ich schnell ab, "...so toll ist es auch wieder nicht", dabei zerbrach ich mir den Kopf, was ihm wohl wieder misslungen sein konnte. "Fein", wiederholte sich Rudi in meine Denkpause hinein und seufzte auf eine Art, die augenblicklich alle meine "Sei-auf-der-Hut-Systeme" auf Alarmstufe rot schalteten. Es war dieses bekannte "Hörst-du-mein-Seufzen" Seufzen, das nur dazu dient, beim ungeübten Zuhörer den vorauseilenden-Mitleids-Reflex" zu aktivieren. Nicht bei mir. Zweifellos steckte Rudi mal wieder in Schwierigkeiten. Es war das altbekannte Spiel, erst würde er von mir Mitgefühl, Trost und Rat erbitten, dann wie selbstverständlich meine tatkräftige Mithilfe zur Lösung des Problems erwarten. "Es ist nur eine unwichtige Sache und es betrifft dich auch nicht", pflegte er jedesmal zu sagen, um dann unaufgefordert den Sorgen bereitenden Sachverhalt zu schildern, ohne allerdings auf das wieso und warum einzugehen. 

Er wolle mich mit den unerfreulichen Einzelheiten nicht unnötig belasten. Vorgeschichten hätten nur etwas Zeitraubendes, sagte er, und kam am Ende seines Vortrags zu den nötigen Schritten meinerseits, ihn aus der Misere zu befreien und schloss mit der Frage, "Das tust du doch für deinen alten Freund?" 

Eigentlich handelte sich es sich fast immer um minderschwere Notlagen, und ich erinnerte mich, dass erst vor Kurzem, im engeren Kreis um Rudi, zu dem außer mir noch Arno, Friedhelm, Helmar, Rüdiger und Theo gehörten, eine tiefgründige, nächtliche Diskussion stattgefunden hatte, bei der es um das Wesen der Männerfreundschaft ging. Rudi war es, der nach der letzten Flasche Aquavit, zwar holperig und vom heftigem Schluckauf begleitet, das Schlusswort formuliert hatte, sinngemäß etwa, "Freundschaft hieß unbedingtes Zueinanderhalten in allen Notlagen, nie aber den Anderen mit unmöglichen Forderungen zu bedrängen, ...es sei denn, es ließe sich nicht vermeiden!" Alle hatten genickt und wir wollten uns schon auf den Heimweg machen, da entdeckte Helmar ganz hinten unter dem Sofa eine fast noch volle Flasche alten Genever, somit blieb genug Zeit zu klären, auf welche Weise dieser selbstverständlich unmögliche Fall den Freunden zur Kenntnis gebracht werden sollte, war doch so eine Mitteilung nicht in die schlichten Worte der Alltagssprache zu kleiden. 

 Als achtundvierzig Stunden später wieder Ordnung in meinem Kopf eingekehrt war, hatte ich keine Erinnerung an die letzte Sätze dieser Nacht. Wie gesagt Rudis Anliegen gehörten in der Regel zu den lösbaren Aufgaben, waren aber von spezieller Art. Vor zwei Wochen hatte er mich gebeten, ihm ein paar Skorpione aus der Zoohandlung zu besorgen, so etwa drei bis vier, nach Möglichkeit übermütige Halbstarke, am besten ein paar Pubertierende, die voll auf Krawall standen, er käme grad nicht in unsere Gegend und von mir wäre es ja nur ein Katzensprung. "Rudi...?", hatte ich misstrauisch gefragt, "...du willst doch nicht etwa?" Er fiel mir schroff ins Wort, Genaueres könne er mir im Augenblick dazu nicht sagen, nur zu meiner Beruhigung, es handele sich um eine reine Notwehraktion, also ein Vorgehen, das durch das Grundgesetz legalisiert sei, aber auf zwei Dinge sei beim Kauf unbedingt zu achten. Erstens sollten die Viecher nicht zu groß sein, in Schuhgröße neununddreißig müssten sie mühelos Platz finden, und zweitens sollte ich einen anständigen Rabatt aushandeln. So war ich denn auch nicht besonders unglücklich, als die Verkäuferin sagte, sie habe leider keine Skorpione am Lager, aber ein paar Sandvipern wären gerade im Angebot. "Zu lang", sagte ich und ging. 

Tags drauf hatte Rudi meinen mit bedauerndem Unterton vorgetragenen Rückruf kommentarlos entgegengenommen. Daran musste ich jetzt denken. "Bernhard...", vernahm ich seine inzwischen fast tonlose Stimme, "...Bernhard, es ist nur eine unwichtige Sache und betrifft dich überhaupt nicht!" 
"Na prima...", sagte ich schnell, "... dann können wir uns jetzt ja über den 1.FC unterhalten, wieso..." 
"Bernhard...", er war kaum noch zu verstehen, "...Bernhard, ...die Situation ist eingetreten!" Ich hatte keine blasse Ahnung, was er meinen konnte. 

"Rudi...", sagte ich, "...ich kann ja noch mal in den Zooladen gehen" und lauschte angespannt in die Leitung. Es blieb merkwürdig still, endlich vernahm ich etwas, das sich nach tiefstem Luftholen anhörte, dann lief es mir eiskalt über den Rücken. 

An mein Ohr drang es, grauenvoll scheppernd, unendlich in die Länge gezogen, Trommelfell zerrend, schmerzhaft schrill bohrend, nervig kreischend und vibrierend, unheilvoll schicksalswabernd. 
"Rudi...", schrie ich, "...seit Wochen suche ich meine Mundharmonika und du...!" 
"Berni...", kam es kaum verständlich zurück, "...soll ich es nochmal...?" Urplötzlich war sie wieder da, die Erinnerung an das Erkennungszeichen für die absolut ultimative Katastrophe. "Spiel mir das Lied vom Tod". 


Wird fortgesetzt


Anmerkung von TassoTuwas:

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Kommentare zu diesem Text


 IngeWrobel (30.03.22, 02:02)
Das war jetzt mein "Gute-Nacht-Gutsle" – danke für das Lächeln, mit dem ich nun schlafen gehe...  ;) 
Auch Dir ein guhds Nächdle wünscht die Inge.

 TassoTuwas meinte dazu am 30.03.22 um 10:20:
Liebe Inge,

ich habe immer gehofft, meine Schreiberei könnte für etwas nützlich erweisen.
Dass sie als Einschlafhilfe dient erfüllt mich mit Stolz!
 
Grüßle zurück
TT

Antwort geändert am 30.03.2022 um 10:24 Uhr

 FrankReich (30.03.22, 02:16)
Vielleicht gibt es Bielefeld ja doch.
🤔🤔

Ciao, Frank

 TassoTuwas antwortete darauf am 30.03.22 um 10:23:
Wenn ja, dann vielleicht nicht mehr lange.
Der Riesen-Myriapode nähert sich über die A2!

LG TT

 TrekanBelluvitsh (30.03.22, 02:33)
Nix für ungut, aber ich würde Rudi bei I-Bähij-Kleinanzeigen reinsetzen: "Umsonst abzugeben oder gegen Höchstgebot. Selbstabholer bekommen eine Autogramm von Karl-Heinz Koslowski." Aber ich bin ja auch ein Optimist.

 TassoTuwas schrieb daraufhin am 30.03.22 um 10:27:
Wird schwer.
Ich steh ja auf dem Standpunkt, was nix kostet, ist auch nix!

 Lluviagata (30.03.22, 07:14)
Ich bleibe neugierig ...

Liebe Grüße
Llu ♥

PS: Sandvipern kann man doch einrollen?

 TassoTuwas äußerte darauf am 30.03.22 um 12:51:
Hallo Llu,
 
das mit der Sandviper ist mir peinlich. Ich hatte sie mit der Anakonda verwechselt!

Liebe Grüße
TT

 harzgebirgler (30.03.22, 07:27)
hoffentlich hängt da nicht wer am strick
und bricht sich beim fall'n gleich das genick! :O

bin schon gespannt wie ein flitzebogen!

lg
harzgebirgler

 TassoTuwas ergänzte dazu am 30.03.22 um 12:54:
Wir stehen erst am Anfang vom Geschehen
er könnte durchaus turbulent weitergehen!

Herzliche Grüße
TT

 monalisa (30.03.22, 08:12)
Hallo TT,

der Ich-Erzähler deiner spannenden Alltagsgeschichte ist einfach zu gut für diese Welt. Glaubs mir, mit diesem Typus kenn ich mich aus. Ich bin sehr gespannt auf die Fortsetzung, während mich der Ohrwurm des "Todesliedes" beschallt :) !

Liebe Grüße
mona

 TassoTuwas meinte dazu am 30.03.22 um 18:14:
Liebe Mona,

du hast so recht!
Aber soll ich mich wirklich auf meine alten Tage noch ändern?

Ich schlage vor, wir unterhalten uns darüber, wenn diese Geschichte zu ende ist.
Falls du dann noch dabei bist.

Bis dahin alles Gute
LG TT

 Regina (30.03.22, 10:30)
Wie heißt es doch in einem Lied: "Wahre Freundschaft soll nicht wanken!" Schön überzeichnet, welche Dienstleistungen die Kumpels so von einem erwarten.

 TassoTuwas meinte dazu am 30.03.22 um 18:18:
Hallo Regina,
 
einer für alle, alle für einen
gilt für lachen wie für weinen

Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg (30.03.22, 11:41)
Hallo Tasso,
schlag doch im Freundeskreis einfach vor, dass ihr euch für Notfälle spezialisiert und bringe dich als Mann für die aufbauenden Worte ins Spiel. Bestimmt findet sich auch einen Spezialisten für Skorpione.
Sehr gut unterhalten
Herzliche Grüße
Ekki

 TassoTuwas meinte dazu am 30.03.22 um 18:22:
Hallo Ekki,

meinst du, so als männliche Frau Erika, die in der Bäckerblume guten Rat gibt?

Wieso bin ich darauf noch nicht selbst gekommen.

Dank und herzliche Grüße
TT

 AZU20 (30.03.22, 14:25)
Jetzt hast Du mich aber neugerig gemacht. LG

 TassoTuwas meinte dazu am 30.03.22 um 18:24:
Die eine oder andere Überraschung wird es noch geben.

LG TT

 Graeculus (30.03.22, 14:45)
Gut erzählt! Klingt nach Fortsetzung im Jenseits.

 TassoTuwas meinte dazu am 30.03.22 um 18:25:
Jenseits kommt später.
Erst wird auf KV getestet!

 GastIltis (30.03.22, 16:53)
Hallo Bernhard,

als ich heute morgen den Text kurz überflog, dachte ich, dass ich in einem falschen Forum gelandet bin, in dem es vor unbekannten Leuten nur so wimmelt. Und auch die Qualität der Erzählweise war mir völlig neu. Nun dachte ich, dass es daran gelegen haben könnte, dass ich schlecht geschlafen habe und zudem mir für den Vormittag einiges vorgenommen hatte. Als ich dann unterwegs war, dachte ich so im Stillen (so oft denke ich ja nicht laut), aber ein Name hatte doch so einen Klang, der mich an irgend etwas erinnert hatte. Danach gingen meine Überlegungen in die Richtung, mit der Denkarbeit vielleicht doch ein wenig auszusetzen, weil man das oft als Therapie anwendet, da es helfen soll. Kurz, ich bin mir gar nicht schlüssig, ob der Text nun als letztes Aufbäumen eines unbekannten Genies zu werten ist, oder ob man selbst nicht mehr in der Lage ist, Wort an Wort zu reihen und dann zu verstehen. Ich, lieber Bernhard, überlege noch. Du kannst dir ja schon mal eine passende Ausrede überlegen, die ich dann aber auch begreifen sollte. Abschließende Frage noch: was genau war da eigentlich los?
Herzlich grüßt dich rein aus Vorsicht Gil.

 TassoTuwas meinte dazu am 30.03.22 um 23:10:
Sehr geehrter Gil, für deine, durch das Lesen obigen Kapitels, erlittene Verwirrung, tut es mir aufrichtig leid. Der Medizin gibt diese Verhaltensstörung immer noch Rätsel auf. Eine Erklärung ist, der sogenannte "Epikionale Leseschock", der bei sensiblen oder auch kleinwüchsigen Menschen beim Lesen hervorragender Literatur unmittelbar auftritt. Übrigens werden zur Erforschung der Ursache noch Probanden gesucht. Du könntest die also ein feines Zubrot verdienen! Ich hoffe, dass es sich bei dir um einen leichten Krankheitsverlauf handelt, denn Bernhard ist gewillt weitere Kapitel zu posten! Sei herzlich gegrüßt und geb auf dich Acht! TT

 Didi.Costaire (30.03.22, 17:39)
Ja Tasso,

es gibt auch geschwätzige Männer
und Bernhard muss sich eine Menge anhören.
Aber er lebt.

Schöne Grüße,
Dirk

 TassoTuwas meinte dazu am 30.03.22 um 18:55:
Hallo Dirk,

deine Worte erinnern mich an "Bernd das Brot".
Der hat es auch nicht leicht, aber er lebt, das sollte uns Mut machen!

Herzliche Grüße
TT

 plotzn (30.03.22, 21:01)
Gut, wenn man Freunde hat - besonders solche!
Wie wäre das Leben sonst so grau und monoton...

Danke, Ru... ähm Bern... ähm Tasso!
Stefan

 TassoTuwas meinte dazu am 30.03.22 um 23:12:
Hallo Stefan,

du darfst mich in Zukunft "Ruberta" nennen.
Aber sonst keiner!

Herzliche Grüße
TT
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