5.2011 – 7.2011

Szene zum Thema Entfremdung

von  Terminator

Mai 2011


Zwei Bücher. Jonassens "Organismus und Freiheit" für den Arsch, und Weiningers "Geschlecht und Charakter" für den Kopf. Der erfolgreiche Abschluss eines fünf Jahre langen Selbststudiums der anderen Hälfte der menschlichen Natur. Dabei war der logische Abschluss durch die bewusstseinserweiternde Interpretation von zwei Zeilen aus Metallicas "Carpe Diem Baby" bereits im August 2007 geleistet. Ein Turbo-Mai, ein Monat, der schneller ging, als er kam. Es ist so schwer, in Berlin einen Friseur zu finden. So musste ich bis Ende Mai warten, und in einem Dorf bei Hannover ließ ich mir endlich die Haare schneiden.


Es erwischte Frankfurt. Barcelona machte Spaß. Mein privater Fussballehrer verglich mich mit Messi: unbeholfen, aber effektiv. Ein Messi wäre aus mir nicht geworden, hätte ich gar mit drei Jahren professionell zu spielen angefangen. Wäre ich durch die an Verschwörung grenzende Lieblosigkeit seitens der anderen Hälfte der menschlichen Natur nicht schon mit 16 in eine tiefe Depression gedrückt worden, wer weiß, vielleicht wäre aus mir ein großer Wissenschaftler geworden.



Juni 2011


Mein Fahrrad folgt mir nach Berlin. Wir steigen in Wolfsburg aus und fahren durch Wälder nach Oebisfelde, dann weiter mit dem Zug bis Werder, von dort bis Potsdam wieder nur wir beide; um den Stadtverkehr zu vermeiden, nehmen wir den Durchzug nach Erkner, und erreichen unseren Terminus vom Osten her. Mein Fahrrad wollte schon im Sommer 2010 mit nach Berlin, aber ich dachte, in meinem kleinen Apartment keinen geeigneten Platz finden zu können. Wie ich mich irrte! Mein Fahrrad steht seitdem in einem toten Streifen vor dem Fenster und dreidimensionalisiert den Raum durch seine Funktion als Kleiderhalter. Es liegt mir jedoch fern, mein treues Rad nur als Mittel zum Zweck zu behandeln, und so fahre ich mit ihm aus der Stadt, oder zumindest aus dem Wohngebiet raus, wenn ich Zeit habe. Manchmal nehme ich mir einfach die Zeit, denn ein Rad wochenlang zu vernachlässigen, ist nicht gerade nett. Ihm gefallen weite Felder, menschenleere Orte, Wälder, Bäche, Seen. Doch auch in der Wohnung verstehen wir uns sehr gut. Einmal gingen bei mir nachts die Lichter aus, und ich hatte weder eine Taschenlampe noch eine Kerze, da gab mir mein treues Fahrrad sein Vorderlicht mit Batterie, mit dessen Hilfe ich die Ursache für das Lichtaus beheben konnte. Seit sieben Jahren fahren und leben wir zusammen.



Juli 2011


Kühl und feucht. Angenehme Herbsttemperaturen im Juli. Kleine Radtouren. Große Gedanken. Die Tage vergehen schneller als sie entstehen. Ich will noch so viel lesen, schreiben, denken. Mit Spannung erwarte ich den Börsencrash vom August, und er kommt tatsächlich. Ich finde einen Ferienjob und verliere ihn vor dem ersten Arbeitstag wieder: Auftragsrückgang in der Branche. Vielleicht war ich aber nicht nett, sondern ich, beim Vorstellungsgespräch. Ein leichtes Nachgrübeln darüber, ob ich etwas falsch gemacht haben könnte, ließ mich über mein Sozialverhalten etwas nachdenken. Also dachte ich: ich bin herzlich und ehrlich, und denke von den Menschen grundsätzlich das Beste zuerst, gebe jedem eine faire Chance. Für die meisten Menschen bin ich nur eine anonyme Ziffer, was ich als durchaus angenehm empfinde. Friesisch herb werde ich, wenn jemand Anstalten macht, mich dazu aufzufordern, mich zu ändern: ich bin schon anders genug, das reicht mir. Ich respektiere jeden wie er ist, sogar mit einem Wohlwollensvorschuss: ich denke von den Menschen grundsätzlich das Beste zuerst, was ihre Gründe und Motive betrifft, sich so und nicht anders zu verhalten. Wenn ich mich irre, und es sich erweist, dass ich ein Arschloch vor mir stehen habe, ist das Arschloch eben ein Arschloch, was mir als Scheißproblem am Arsch vorbeigeht, da es nicht meins ist. Fordern Arschlöcher im Namen eines für sie banalen für mich analen Konformitätsdrucks von mir, mich vom Wirbeltier zum Urmund zurück zu entwickeln, kann ich nicht einmal mit Verachtung dienlich sein. In einer Welt, in der Hündchen Herrchen erziehen, haben Arschlöcher jedoch einen veritablen Grund zu denken, dass ihnen die Welt gehört.


Anmerkung 20.4.2022 (Text ist ursprünglich von 2012): Damals hatte ich die Autismus-Diagnose immer noch nicht, und überhaupt keine Ahnung, was an mir (Kommunikationsstil, Sozialverhalten, Körpersprache) so anders war.



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