Aus meinem Leben.. Meine Grundschulzeit von 1944-1949

Erzählung zum Thema Schule/ Studium

von  EkkehartMittelberg

Ich kann mich noch an einige Wochen Schulzeit während des Zweiten Weltkriegs bis Ende Januar 1945 erinnern. Dann wurde der Unterricht ausgesetzt, weil der Schulweg durch Fliegerangriffe in kurzen Zeitabständen zu gefährlich wurde.
Während dieser Phase gab es keinen einzigen Lehrer mehr, nur sogenannte Fräuleins. Unsere Lehrerin war sehr streng und absolut humorlos. Sie verschaffte sich durch Schläge mit dem Rohrstock auf die Hände Respekt.
Mir fällt keine pädagogische Maßnahme ein, die den sturen Frontalunterricht aufgelockert hätte.
Das einzige Zugeständnis war, dass wir mit unseren Griffeln Spazierstöcke auf die Schiefertafel malen sollten, um vor dem Schreiben der Buchstaben die Handgelenke zu lockern.
Es dauerte bis 1946, als der Unterricht an einer anderen Schule wieder aufgenommen wurde. Ich war sehr überrascht, dass das Lehrpersonal überwiegend jung war und dass inzwischen auch einige junge Lehrer dazu gehörten. Die älteren warteten noch auf ihre Entnazifizierung, was mir natürlich nicht bekannt war.
Der beliebteste der jungen Lehrer war damals eine Ausnahme, weil er Tonfilme zeigte. Es gab ja noch kein Fernsehen und wir freuten uns unbändig auf diese Stunden. Da war kein ermahnendes Wort notwendig; wir waren vor lauter Spannung auf die bewegten Bilder mucksmäuschenstill. Wenn es nach uns gegangen wäre, hätte der Unterricht mit diesen Tierfilmen stundenlang dauern können.
In den ersten Nachkriegsjahren geschahen unglaubliche Dinge für kindliches Auffassungsvermögen. Wir hatten eine junge Deutschlehrerin, die uns wie eine Domptöse mit drakonischer Strenge bändigte. Aber nicht das war das Erstaunliche, denn die meisten von uns erlebten keine wesentlich tolerantere häusliche Erziehung. Nein, es war aufregend, dass diese Dame wöchentlich mit neuen hochhackigen Schuhen erschien. Unsere Eltern wussten das, und wenn wir sie darauf ansprachen, schwiegen sie geheimnisvoll. Wir haben nie erfahren, was diese Lehrkraft außer sich selbst auf dem Schwarzmarkt sonst noch anzubieten hatte. Sie verschwand nach ein paar Monaten und selbst unseren Kinderohren blieb nicht verborgen, dass ihre Zeugnisse gefälscht gewesen sein sollen.
Ich hatte das große Los gezogen, weil ich nach ihr eine erfahrene ältere Kassenlehrerin erhielt, die, für diese Jahre völlig untypisch, ohne die geringste körperliche Züchtigung allein mit ihrer ausgeglichenen humorvollen Persönlichkeit unserer Aufmerksamkeit sicher sein konnte. Im Rahmen der Umerziehung nach dem Nationalsozialismus spielte der Religionsunterricht eine große Rolle und sie verstand die alttestamentarischen Geschichten, zum Beispiel von der Sintflut
oder von Joseph und seinen Brüdern, so spannend zu erzählen.
Typisch für jene Zeit war ihr Geschichtsunterricht, denn die Erzieher vermieden es peinlich, irgendetwas zu behandeln, was auch nur entfernt an den Nationalsozialismus hätte erinnern können.
So begann der Geschichtsunterricht mit den Neandertalern, die man damals noch für die ältesten Menschen hielt. Mangelnde Unterrichtsmaterialien und die diffuse Quellenlage über die vermeintlichen Urmenschen kamen uns entgegen, Fakten-Defizite mit Fantasie zu füllen und aus Spekulationen ein Abenteuer zu machen.
Die miserable Ausstattung der Schulen mit Lehr- und Lernmaterial galt auch für den Sportunterricht, für den nahezu alles fehlte. Von einer Turnhalle ganz zu schweigen, gab es keine Laufbahnen und keine Sprunggruben. Mein Vater, der den Sportunterricht erteilte, trainierte uns dennoch im Hochsprung. Ein Wunder, dass dabei keine Verletzung passierte. Doch eines Tages stand er allein vor dem Sprungseil. Wir waren in einen nahegelegenen Park geflüchtet, um dort mit einem Tennisball Fußball zu spielen. Dies gestand er uns nicht zu, weil Schuhe, von Fußballschuhen gar nicht zu reden, und Fußbälle damals sehr teuer waren und die Schuhe durch die Bolzerei mit einem Tennisball sehr litten. Nachdem er uns schließlich gefunden hatte, wussten wir, dass eine sehr harte Bestrafung fällig war. Ich habe meinen Vater nie gefragt, ob er im Lateinunterricht mal etwas von dem Römer Manlius Torquatus gehört hatte, der seinen Sohn wegen Ungehorsams exemplarisch bestrafte. Eine Sonderstrafe widerfuhr auch mir. Ich erhielt einige Hiebe mehr als meine Klassenkameraden.
Dennoch muss ich zur Ehre der Grundschule sagen, dass in ihr weniger geschlagen wurde als später  in der Unterstufe des Gymnasiums.
Mehrtägige Klassenfahrten waren in den ersten Nachkriegsjahren aus finanziellen Gründen unmöglich. Aber einmal wurde an meiner Schule eine eintägige Busfahrt zur Besichtigung von Burgen organisiert. Selbst das war außerordentlich. Ich denke gern an die einstündige Rückfahrt zurück, während der wir ohne besondere Aufforderung der begleitenden Lehrer begeistert Lieder der Wandervogelbewegung sangen, deren teilweise ideologischer Gehalt nicht den Lehrern und schon gar nicht uns bewusst war. Unsere Favoriten waren „Hoch auf dem gelben Wagen“, das das Lieblingslied eines späteren deutschen Bundespräsidenten gewesen sein soll, und „Wir wollen zu Land ausfahren“, dessen Verse

„Und wer die blaue Blume finden will,
der muss ein Wandervogel sein“

ich besonders geheimnisvoll fand.

Mir erschien die Grundschulzeit insgesamt als heiter. Das lag vor allem daran, dass uns nicht ein einziger Lehrer überforderte. „Leistungsdruck“ war damals noch ein Fremdwort.

April 2015


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Kommentare zu diesem Text


 Tula (22.04.22, 00:51)
Hallo Ekki
Lehrererfahrungen in der Nachkriegszeit müssen aufregend gewesen sein  :( Wobei ich mich auch noch an unaustehlich strenge Lehrerinnen erinnern kann, die ganz offenbar Kinder verabscheuten. Das war in den Siebzigern in der DDR.

Ansonsten vermute ich, dass die eher friedlichen Neandertaler moderner Propaganda zum Opfer fielen. "Fun im Ganzen ohne Lanzen" riefen ihnen ihre neuen Freunde zu. Einmal entwaffnet wurden sie Homo Sapiens ger(a)echt erschlagen ...

LG
Tula

Kommentar geändert am 22.04.2022 um 00:51 Uhr

Kommentar geändert am 22.04.2022 um 00:52 Uhr

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.04.22 um 11:05:
Merci, Tula, 
meine erste Grundschullehrerin war so eine überaus strenge Gouvernante, wie du sie schilderst.
Auch deine Vermutung zum Neandertaler trifft zu: Er wurde uns als erster Mensch dargestellt, friedlich wie der homo sapiens.
LG
Ekki
Taina (39)
(22.04.22, 10:41)
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 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 22.04.22 um 11:12:
Grazie, Taina,

nach dem Zweiten Weltkrieg gab es kaum technische Hilfsmittel, um Kinder zu motivieren. Der uns die Tierfilme zeigte, war damals ein Pionier.
Vielleicht hilft auch die kombinierte Methode: erst spazieren gehen und danach Spazierstöcke zeichnen.  :)

LG
Ekki

 harzgebirgler (22.04.22, 13:16)
die grundschulzeit erscheint mir sehr besonnt
im rückblick noch ohn' großen horizont
der sich dann aber später auftat schon
begrabend zugleich manche illusion.

lg
henning

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 22.04.22 um 14:58:
Vielen Dank, Henning.
so wie dir wird es vielen ergangen sein.
LG
Ekki

 Graeculus (22.04.22, 16:55)
Typisch für jene Zeit war ihr Geschichtsunterricht, denn die Erzieher vermieden es peinlich, irgendetwas zu behandeln, was auch nur entfernt an den Nationalsozialismus hätte erinnern können.

Da ich nun 12 Jahre jünger bin als Du, wird Dich vielleicht interessieren:
- Schläge gab es auch noch auf einer katholischen Volksschule 1955 bis 1959.
- Den Nationalsozialismus haben wir auch in der ersten Hälfte der 60er Jahre nicht behandelt - wir sind nie über Bismarck hinausgekommen. Da fehlte also noch einiges mehr. (Dabei ist unser Geschichtslehrer später Bundesvorsitzender des Philologenverbandes geworden: Bernhard Fluck.)

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 22.04.22 um 17:47:
Merci, Graeculus, diese erschreckende Vermeidungstaktik interessiert mich natürlich sehr. Sie setzte sich, was mich betrifft, auf dem Gymnasium (1949-1958) fort. wo der Geschichtsunterricht ebenfalls nicht über Bismarck hinaus kam.
Ich gehörte zu der kleinen Minderheit in meiner Klasse, die sich persönlich über den Nationalsozialismus informierte.

 GastIltis (22.04.22, 17:28)
Hallo Ekki,
während ich drei Jahre nach dir in die Grundschule gekommen bin, musste ich dort bis 1955 ausharren. Unterschiede gab es insofern, dass nicht geschlagen wurde! Natürlich hatten wir es am Anfang auch mit Lehrerinnen zu tun, wobei es irgendwann kompliziert wurde, weil die Damen, bei mir Fräulein Sacher, die aus damaliger Sicht etwas älter war, mich wohl mochte, aber ich verhältnismäßig widerspenstig in Sachen Disziplin war. Meine Kopfnote in Betragen war dann ab Klasse fünf eine Drei, was so in Richtung Erziehungsheim tendierte. Die Schwierigkeiten lagen auch darin begründet, dass meine Mutter, die keinen Beruf hatte, in einer Fabrik in drei Schichten arbeitete, in der Maschinen liefen, die laufend zu reparieren waren, sodass sie ihre vorgegebenen Normen fast nie erfüllen konnte. Mein Glück war, dass ich eine zwei Jahre ältere Schwester hatte (noch habe), die fleißig und auch klug war und ist und sich verantwortlich fühlte. Übrigens war die Drei in Betragen meine schlechteste Note, in den wichtigen Fächern hatte ich nie Probleme. Zu erwähnen ist vielleicht, dass wir einen Musiklehrer hatten, der Thomaner war und eine traumhafte feste Stimme hatte. Als wir dann ab Klasse sieben so halbwegs bei Stimme waren, haben wir mit Begeisterung ein sowjetisches Kampflied gesungen: Nichts hält uns auf zu Wasser und zu Lande, uns schrecken nicht die Wolken und das Eis …
Naja! Sei herzlich gegrüßt von Gil.

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 22.04.22 um 17:56:
Gracias, lieber Gil, wenn du über dein Leben beichtest, gibt es a u c h wegen der unterschiedlichen politischen Systeme, in denen wir aufgewachsen sind, für mich immer wieder Neues. Ich bin sicher, dass außer mir noch viele andere an Berichten aus deiner Vita interessiert wären.
Herzliche Grüße
Ekki

 TrekanBelluvitsh (22.04.22, 19:04)
Na, ich bin mal bös: Wenn die Lehrer Leistungsdruck hätten aufbauen wollen, wäre bei manchem wohl schnell aufgeflogen, dass es mit der eigenen Leistung/dem eigenen Wissen nicht so weit her war.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.04.22 um 20:56:
Danke, das stimmt. Selbstkritik ist eine Eigenschaft, die allgemein und auch bei Lehrern nicht weit verbreitet ist.

 AchterZwerg (23.04.22, 07:16)
Lieber Ekki,
der Wunsch, Schulkinder zu schlagen, war seinerzeit weit verbreitet, konzentrierte sich in Westberlin aber mehr auf den Nachwuchs der ersten Gastarbeiter.
Endlich durfte man wieder ungestraft ... die Elten konnten sich ja aufgrund ihrer Sprachprobleme nicht wehren.

Piccola

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.04.22 um 16:47:
Merci. Piccola, dass insbesondere die geschlagen wurden, deren Eltern sich nicht wehren konnten, hat mich schon als Schüler sehr traurig gemacht. Ich werde noch davon berichten.
Liebe Grüße                                                                  Ekki
Agnete (66)
(23.04.22, 21:10)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.04.22 um 22:49:
Merci, Agnete, so ist es. Der unmittelbar überstandene Zweite Weltkrieg schuf diese Andersartigkeit.
LG
Ekki

 AZU20 (24.04.22, 17:05)
Ich hatte eigentlich während der ganzen Jahre nur eine ältere Lehrerin, die ich mochte und der ich den "Tierfreund" einmal im Monat brachte.  Sie lwbte hoch oben oberhalb von Münstereifel ineiner Bretterhüttte zusammen mit einer etwa gleichaltrigen Frau. Nein, falsch. Es waren die beiden Fräuleins. LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.04.22 um 17:23:
Gracias, Armin. diese älteren Fräuleins hatten zwar ein gesichertes Einkommen, aber doch keine leichte Position in der Gesellschaft.
LG
Ekki

 Quoth (08.05.22, 11:33)
Ich war sehr überrascht, dass das Lehrpersonal überwiegend jung war und dass inzwischen auch einige junge Lehrer dazu gehörten. Die älteren warteten noch auf ihre Entnazifizierung, was mir natürlich nicht bekannt war.
Hallo EkkehardMittelberg, nein, die älteren waren gefallen, vermisst oder in Gefangenschaft. Allein wegen Mitgliedschaft in der NSDAP wurden Lehrer nur vorübergehend entlassen und gleich wieder eingestellt. Eine Entnazifizierung fand, wenn überhaupt, erst Ende der 40er Jahre statt und verlief meist sehr milde. Auch die "Fräuleins", die an den Schulen dominierten, waren vielfach in der Partei gewesen. So stellt es sich mir dar - mag in anderen als der britischen Besatzungszone aber anders gewesen sein. Gruß Quoth

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.05.22 um 09:53:
Hallo Quoth, deine Korrektur ist okay. Ich nehme sie dankbar zur Kenntnis.
Gruß
Ekki
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