Der innere Bergbauer

Text zum Thema Missbrauch

von  Solvy

Es geschah vor vielen Jahren:

Ich stand in meinem Land auf einer weiten Fläche, in einer bunten Landschaft. Sie war geprägt von Grasflächen, Wiesen und Weiden, Äckern, Wäldchen und alten, aber lebendigen Dörfern. Es war deutlich, dass dieser Boden fruchtbar ist, dass er vieles aber noch verbirgt. In ihm wirken starke Kräfte.

Ich ging durch diese Landschaft und fragte mich, was alles aus diesem Stückchen Land noch werden kann. Dann traf ich einen Unternehmer in einer Dorfkneipe. Er hatte seine Visionen von dieser Gegend. Begeistert berichtete er mir von den Bodenuntersuchungen, die er hatte durchführen lassen. Sie hätten ergeben, dass sich Diamanten und an anderer Stelle sogar Erdöl, Kohle und wertvolle Erze in diesen Böden befänden. Er werde demnächst beginnen, diese Grundstücke zu pachten und die Bodenschätze abzubauen. Natürlich werde er auch dafür sorgen, dass später ein fruchtbares Land mit ebenen Ackerflächen, Badeseen und Grünflächen zur Naherholung entstünden. Er bot mir viel Geld für mein Land, zog mich mit seinen Visionen in seinen Bann, so dass ich dem Abbau der Bodenschätze zustimmte. Denn nun wollte auch ich wissen, was alles Wertvolles in dieser Erde verborgen lag; wollte mich nicht mehr damit zufrieden geben, dass ihre Kraft, ihre Energie, ihre tausendjährige Entwicklung diese Landschaft zu dem machte, was sie ist und ihr Wert dadurch sichtbar wird, was alles obenauf wächst, gedeiht und sich noch entwickelt, in der Vielseitigkeit sichtbar wird, die sich stetig vermehrt. Nein, nun wollte ich alle Schätze auf einmal sehen, klar vor mir.

So begannen wir also die Landschaft umzuwandeln. Es entstanden tiefe Schächte, um die Erze und Diamanten abzubauen. Sie waren dunkel und tief unten war es auch sehr heiß. Es war schwer dort unten zu arbeiten. Viel Abraum wurde aus ihnen herausgeholt und achtlos zu Halden aufgetürmt. Mit schwerem Gerät und viel Energieeinsatz wurden die Schätze geborgen. Die Bächlein, die einst die Landschaft durchzogen, wurden umgeleitet, zusammengefasst, verrohrt und dienten dazu, das Wasser aufzunehmen, das sonst in die Schächte einbrechen und sie vernichten würde. An anderer Stelle rückten die großen Schaufelradbagger an und wühlten die Kohle aus der Erde. Riesige Krater entstanden. Bald sah es aus wie eine Mondlandschaft.

Das Leben erstarb, denn die Dörfer wurden abgerissen, umgesiedelt; keine Menschen lebten mehr in dieser Gegend, keine Wiesen und Weiden blühten mehr und auch die Wäldchen waren verschwunden. Ein Spaziergang war nicht mehr möglich, und auch wenn ich ihn gemacht hätte, hätte er mich nur traurig gestimmt. Ich hätte nur noch die Leere gefühlt, die diese Landschaft jetzt ausstrahlte.


Der Unternehmer verkaufte die Bodenschätze zu guten Preisen und wurde damit reich. Er beauftragte, nachdem alles abgebaut war, eine Firma mit der Rekultivierung und ist seitdem verschwunden. Von den gemeinsamen Visionen, was alles mit diesen Bodenschätzen angefangen werden könnte, was alles mit ihrer Hilfe entstehen könnte, ist nichts übrig geblieben. Es waren alles Illusionen. Die Landschaft wurde ihrer Seele beraubt, die Seele wurde verkauft und der Erlös floss nicht in diese Gegend zurück, sondern aus ihr raus. Nun weiß ich zwar, welche Schätze alle in dieser Landschaft vorhanden waren und von allen sind auch noch Reste übrig geblieben - denn es lohnte sich nicht, die geringen Mengen noch abzubauen - aber der Preis, den ich dafür gezahlt habe, war sehr hoch. Kurze Zeit nur konnte ich von meinem Anteil am Verkaufserlös leben, konnte damit die Leere überdecken, konnte damit die Wunden abdecken, konnte damit die Ängste unterdrücken. Doch nun bin ich wieder allein, der Illusionist ist verschwunden, das Geld ist verbraucht, die Schätze sind verkauft und die Landschaft ist ruiniert. Jetzt stehe ich da und muss zusehen, wie die Rekultivierung langsam voranschreitet. Ich bekomme mein Land zurück, aber es ist nicht mehr mein Land. Die Erde ist tot, ihr fehlt die innere Kraft, der Zusammenhalt, das Rückgrat, das Gerüst. Dies muss ich jetzt wieder aufbauen. Mit Akribie werden die einzelnen Bodenschichten aufeinander gelegt, werden mit Bedacht Pflanzen ausgesät, die den Boden wieder zu dem machen sollen, was er einmal war. Und tief im Innern sind auch immer noch die Reste von Erz, Kohle und Diamanten vorhanden, vielleicht auch noch Reste vom Öl. Doch lange wird es dauern bis auf der Oberfläche wieder die Buntheit zu sehen ist, die einmal Ausdruck der vorhandenen tiefen inneren Vielseitigkeit war.

Mit Gewalt wollte ich die Schätze alle sehen, sie sofort nutzen. Ich konnte nicht warten, bis sie sich in der Landschaft zeigten. Wollte sie nicht in der Blütenpracht und in den kleinen Bächen erkennen. Meinte, sie nur nutzen zu können, wenn sie klar vor mir liegen. Habe alle Ängste, die mit dem Baggern, Bohren und Schächten verbunden waren, beiseite geschoben; habe dem geglaubt, dass es notwendig sei. Man müsse diese Landschaft erst mal einebnen, ausbeuten, töten, um dann das daraus zu gestalten, was mir wirklich gefalle. Dabei habe ich es zugelassen, dass alle Grenzen missachtet wurden, tiefe Wunden entstanden sind und eine Wüste zurück gelassen wurde. Die Krater sind mittlerweile verfüllt und der Boden beginnt sich zu setzen. Zwar muss ich noch mit Einbrüchen rechnen, aber ich kann immer mehr unterschiedliche Pflanzenarten anbauen. Sie gedeihen wieder und mit dem Wissen um die wieder verborgenen Schätze und mit ihrer Kraft wird auch das Leben in diese Landschaft zurückkehren.



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Kommentare zu diesem Text


 harzgebirgler (27.04.22, 19:01)
Eindrucksvoll dargestellt, wie Erdverwüstung wirkt:
"Die Wüste wächst: weh Dem, der Wüsten birgt!"
(Nietzsche, Zarathustra)

LG
Harzgebirgler

 Solvy meinte dazu am 28.04.22 um 11:21:
Danke Harzgebirgler für die Kommententierung!
Interessanter Gedanke, der nachdenklich stimmt.
Liebe Grüße
Solvy


PS: auch danke für Empfehlung! :)

Antwort geändert am 28.04.2022 um 11:28 Uhr

 diestelzie (28.04.22, 09:03)
Die Landschaft wurde ihrer Seele beraubt...
trifft absolut zu und mittem ins Herz. Ich finde es sehr eindrucksvoll erzählt.

Liebe Grüße
Kerstin

 Solvy antwortete darauf am 28.04.22 um 11:28:
Liebe Kerstin, danke für deine Worte.
Und da es sich im übertragenden Sinn um innere Landschaften handelt, trifft der Verlust der Seele dieser Landschaft auch der gesamten Seelenwelt ins Herz.
Liebe Grüße
Solvy

PS: Auch danke für die Empfehlung :)

 Augustus (16.07.22, 22:38)
Eine schöne Analogie, die durch starke Bilder ins Leben gerufen wird, so wie das Leben selbst in die Bilder fließt. Der Inhalt vermittelt eine traurige, aber auch zugleich eine warnende Botschaft, die des Berges Schätze Schätze sein zu lassen.

Dabei fällt mir ein, dass der Text das genaue Gegenteil von Goethes Gedicht „Gefunden“ darstellt. Während die Blume, die gepflückt werden soll, sich vor Verwelkung fürchtet, und dies anspricht, so entscheidet der Wanderer die Blume samt Wurzel auszugraben; während der Berg im vorliegenden Text, um seine Kostbarkeiten geplündert wird. 

Salve

 Solvy schrieb daraufhin am 17.07.22 um 11:27:
Danke, Augustus, für diesen Kommentar. Als Analogie ist er gedacht und angelegt gewesen, um Lebensereignisse bzw. Missbrauchsbeziehungen in ihrer Tragweite und ihren Auswirkungen bildlich darzustellen. Mir scheint, du hast es beim Lesen empfunden durch die Stärke der Bilder. Und ja, die Botschaft steckt natürlich darin, wobei es mir auch um die Gewalt des Entreißens ging im Gegensatz zum Warten, wie sich die Schätze auf der Oberfläche irgendwann von selbst zeigen (falls dies dann möglich ist).

Liebe Grüße und danke auch für die Empfehlung,
Solvy
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