Wo Brot mehr als bloß Brot ist

Beschreibung zum Thema Wohlergehen

von  eiskimo

Ein Dorf ohne Bäcker ist ein totes Dorf. In Bonnard, 500 Einwohner, kennt man diese schwerwiegende Erkenntnis. Denn überall in Frankreich weiß man das.

Ich habe es letztes Jahr selber miterlebt, wie man den durchaus gut angenommenen und durchaus gut verdienenden Gilles Moreau mit allen Mitteln zum Bleiben bewegen wollte. Aber Gilles konnte nicht weitermachen – die Fabienne hatte ihn verlassen. Seine Frau, die sechs Tage in der Woche von sieben Uhr früh bis sieben Uhr abends im Laden neben der Kirche Gilles´ Backwaren verkaufte, die war Hals über Kopf davon. Gilles schmiss hin.

Jetzt, ein halbes Jahr später, hat Bonnard einen neuen Bäcker. Meine Freunde haben es mir bei meiner Rückkehr sofort erzählt – die schreckliche Zeit „ohne“ sei endlich vorbei.

Bürgermeister Jean-Marc Noiret musste sich aber auch monatelang ins Zeug legen, bis er einen Nachfolger in unser Dorf hatte locken können, den Luc Castelnau, gerade mal 19 Jahre alt, unverheiratet.

Luc ist also jetzt da, und der Grund, warum er das mit dem Backen und dem Verkauf hin kriegen soll, ist etwas ungewöhnlich. Er hat nämlich seine Eltern mitgebracht. Mutter Ghislaine bedient im Laden, und Vater Albert versorgt mit dem vom Vorgänger übernommenen „Jumper“ die größeren Abnehmer: zwei Hotels, die Ferienkolonie, den Campingplatz und ein paar treue Kunden in den umliegenden Weilern.

Das Problem: Luc muss noch üben. Seine Baguettes sind mal zu hell, mal zu dunkel. Das etwas dickere Pain liegt sonderbar flach und schwer in der Hand. Auch bekommt er morgens die Croissants nicht pünktlich fertig.

Bonnard nimmt diese Anlaufschwierigkeiten erstaunlich gelassen. Dem Luc wird verziehen, er ist ja auch noch jung. Hauptsache, wir haben wieder einen Bäcker.

Leider hat auch Mutter Ghislaine gewisse Anlaufprobleme. Sie leidet an einer Zahlen-Phobie. Krumme Zahlen gar sind ihr Untergang. Darum gibt es bei ihr nunmehr alles in glatten Preisen: Das Baguette 1 Euro, das Pain 2 Euro, die Brioche 3 Euro.... Ordert man mehr als zwei Artikel, muss sie dennoch zum Taschenrechner greifen.... mit zum Teil abenteuerlichen Resultaten.

Da Ghislaine herzensgut und äußerst bemüht ist, nutzen die Kunden ihre kleine Rechnenschwäche natürlich niemals aus. Im Gegenteil. Man vermeidet komplexere Bestellungen und bringt, wann immer möglich, schon das passende Geld mit – bloß nicht die Arme auf zehn oder gar zwanzig Euro rausgeben lassen.

Ich finde es toll, wie respektvoll da miteinander umgegangen wird. Weder Preiskampf noch Jagd auf Schnäppchen noch Gier nach Rabatt oder dem Zehn Prozent Bonus – in Bonnard hilft man seiner neuen Bäckerfamilie einfach, einen gerechten Lohn zu erwirtschaften. Denn wenn nicht, olala, dann wäre keinem geholfen. Ein Dorf ohne Bäcker ist ein totes Dorf.




Anmerkung von eiskimo:

Mein Text zum 1. Mai

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Kommentare zu diesem Text

Taina (39)
(02.05.22, 09:37)
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 eiskimo meinte dazu am 02.05.22 um 11:10:
Schön, wenn Du es so empfindest, wie es auch gemeint ist.
Vive la vie,!
Eiskimo
Taina (39) antwortete darauf am 02.05.22 um 11:50:
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 eiskimo schrieb daraufhin am 02.05.22 um 17:28:
Du sagst es! 
Dem Geld nicht hörig sein, damit wäre viel gewonnen

 Regina (02.05.22, 10:02)
Keine Mahlzeit ohne Baguette! Mit diesen Erzählungen bringst du uns das Leben in Frankreich näher. Danke dafür.

 eiskimo äußerte darauf am 02.05.22 um 11:12:
Merci, c' est un plaisir.
Man kann auch in der Provinz dazulernen.
LG
Eiskimo

 AZU20 (02.05.22, 12:51)
Wenn ich an unseren Bäcker denke, kann ich da nur zustimmen. LG

 Dieter_Rotmund (02.05.22, 13:13)
Super, mit noch einzwei Zitaten könnte das auch in der FAZ stehen.

 eiskimo ergänzte dazu am 02.05.22 um 13:33:
Hey, dem FAZ-Anspruch kann ich sicher nicht genügen, aber ich freue mich sehr ..
Merci!

 AchterZwerg (03.05.22, 07:44)
Hier sieht man wieder einmal, dass Güte und Großmut durchaus mit den eigenen Bedürfnissen korrespondieren können: Win Win für alle - noch dazu mit einem angenehmen Gefühl im Herzen.

Liebe Grüße
der8.

 eiskimo meinte dazu am 03.05.22 um 16:14:
Sehr d' accord!
Da kann man die Welt auch im Kleinen etwas lebensfreundlicher machen.
LG
Eiskimo
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