Meine Flugscham und immer wieder Singapur

Tagebuch zum Thema Reisen

von  eiskimo

Mein CO2-Fußabdruck ist eine Schande. Um meine Enkelkinder zu sehen, fliege ich mindestens ein Mal im Jahr nach Singapur. Das sind 13 Stunden Flug nonstop über den halben Planeten, gut zehntausend Kilometer weit.

Bagdad, Karachi, Kuala Lumpur – faszinierende Stätten, die da mit 800 km/h überflogen werden. Und an Bord des Großraum-Jets: Neben mir noch drei, vier oder gar fünfhundert andere Passagiere; ein bunt gemischtes Völkchen aus Globetrottern, St⁹udenten, jungen Familien und Expats, die von Singapur oft sogar noch weiter reisen müssen – stopover nach Australien oder Neuseeland.

Mein ältester Enkel wird jetzt acht Jahre alt – ich habe also diesen Flug schon öfter gemacht und jedes Mal erlebt, wie die große Welt dabei ganz klein wird.

Man sitzt eingepfercht in dieser fliegenden Zigarre, drei mal drei Sitze pro Reihe, zwei 60 Zentimeter breite Gänge, vor sich ein wackeliger Klapptisch und ganz wichtig: der Monitor in der Rückenlehne des Vordersitzes, der einem Musik, Kinofilme, TV-Serien oder Sport aus aller Herren Länder anbietet, individuell abrufbar auf 13 Zoll, Stereokopfhörer inklusive. Man zappt sich also, wenn man denn will, stundenlang durch die weite Welt der Unterhaltung, und sitzt dabei doch äußerst eng. Wie eng, das zeigt sich, wenn das Essen gereicht wird; und diese akrobatische Herausforderung, die trifft einen zwei Mal auf dieser Strecke. Da fingert man auf Kniebreite zwischen Heißgetränk und versiegeltem Chicken-Chopsuy herum und muss auch noch das Besteck aus dem verschweißtem Blister lösen – kleckerfrei!

Not gibt es für mich allerdings schon früher, nämlich die Entscheidungsnot: Fliege ich mit Lufthansa oder Singapur Airlines. Beide Fluglinien bringen einen im Direktflug höchst zuverlässig ans Ziel, die Flugzeiten und -preise liegen dicht beieinander, und auch das Fluggerät ist das gleiche: Airbus 350 oder 380.

Man muss sich letztlich entscheiden zwischen deutschem und asiatischem Service, Distanzierter und professioneller geht es bei Lufthansa zu. Da sind auch deutlich mehr männliche Dienstleistende an Bord. Die zierlichen Damen von Singapur-Airlines in ihren braun-rot mellierten Seidenroben und der unverwechselbaren Bananen-Frisur haben dafür ihr durch nichts zu erschütterndes Lächeln.

Ich kann beiden Mentalitäten viel abgewinnen. Herumflaxen aber geht eindeutig bei Lufthansa besser.

In einem für mich ganz wichtigen Punkt hatte ich bislang immer Glück, egal bei wem ich buchte. Die Besatzungen ließen mich kurz vor Abflug den Sitzplatz tauschen. Das habe ich in den Jahren nämlich gelernt: Schon beim Boarden nach einer frei gebliebenen Sitzreihe Ausschau zu halten. Gab es eine solche, durfte ich dann dorthin wechseln. Warum? Eine solche Dreier- oder Vierer-Reihe, die man alleine belegen darf, ist gleichbedeutende mit sieben, acht Stunden Schlaf. Besser kann es einem in der Business-Klasse kaum ergehen. Pech ist natürlich, wenn die Maschine voll besetzt ist. Dann ist man verdammt, sitzend zu schlafen, und das mit zwei oder drei Nebenleuten, die nicht immer ruhig halten.

Gut, dass es dann die Monitore und Kopfhörer gibt. Durch einen Airbus zu gehen, in dem links und rechts Hunderte von Menschen in engstem Nebeneinander auf ihren jeweiligen Bildschirm starren – alle mit verschiedenem Programm – das wirkt schon fast gespenstisch. Je nach Flugdauer wird es dann auch dunkler. Die Monitore werden abgeschaltet, viele Passagiere schlafen.

Ich selber habe gemerkt, dass mir die Bedienung dieser multimedialen Unterhaltungsmaschine etwas schwer fällt. Lieber schiele ich nach links und rechts und verfolge, was da so nebenan an Unterhaltung abgerufen wird.

Zuletzt sah ich schräg vor mir auf der anderen Gangseite das Leben von Lady Di, und meine Nachbarin rechts hatte enorme Killer-Ameisen vor sich, die eine amerikanische Kleinstadt in Panik versetzten. So groß wie LKWs drangen diese in eine Sportanlage ein, wo gerade Jugendliche ihr Baseball-Training hatten. Ich war buchstäblich hin- und hergerissen. Die Nachbarin knabberte stoisch ihren Müsliriegel. Aber schräg vor mir, bei Lady Di,, da sah ich tatsächlich ein paar Tränchen kullern.

Mein Zielort Singapur ist nicht nur englischsprachig, es ist auch absolut kosmopolitisch geprägt. Das zeigt sich bereits in seinen Flugzeugen.

Und einmal in SG-Changi gelandet (dem seit Jahren meist ausgezeichnete Flughafen der Welt) erlebe ich das auch bei meinen Enkelkindern. Die gehen zusammen mit chinesischen, malayischen oder indischen Kindern zur Schule.

Als der „Opa aus Deutschland“ fühle ich mich dann sehr altmodisch. Als wäre ich aus der öden Provinz in diese dynamische, zukunftsbejahende Weltstadt gekommen. Und ich merke: Es trennt uns mehr als jene Geduldsprobe der 13 Stunden im Großraumflugzeug.

Spätestens bei der Heimkehr in Frankfurt, wenn ich erschöpft wieder aus dem Flieger wanke, kriege ich das bewiesen.

Die erste Rolltreppe oder der erste Aufzug im Lande, sie funktionieren nicht. Und der ICE in Richtung Köln, man kann Wetten darauf abschließen, dass er Verspätung hat.

Aber wenn ich an die amerikanische Kleinstadt denke mit dem Überfall der Killer-Ameisen, dann fühle ich mich doch halbwegs geborgen in der Heimat.





Anmerkung von eiskimo:

Was mir gegen meine Flugscham hilft:  atmosfair.
Man gibt dieser Organisation Geld, um die verursachte Klimaschädigung zu kompensieren. Ich hoffe sehr, dass die 25%  die da zum Flugpreis hinzu kommen, tatsächlich die versprochene Wirkung haben.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (26.05.22, 17:00)
Famlien -> Familien

gleichbedeutende -> gleichbedeutend 
Taina (39)
(26.05.22, 17:07)
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 eiskimo meinte dazu am 27.05.22 um 03:59:
Danke!

 tueichler (26.05.22, 23:07)
Wir Zentralgermanen neigen wohl dazu, meist zu spät zu erkennen, dass Dinge, die wir uns immer schon schlecht gewünscht haben, manchmal eben doch ganz tauglich sind.
Schöner Text!

Tom :)

 eiskimo antwortete darauf am 27.05.22 um 04:02:
Zentralgermanen problematisieren gerne.
Danke für die freundliche Rückmeldung!
LG
Eiskimo
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