Oft nach dem Aufstehen waren noch Traumbilder in seinem Kopf. Beim Gang ins Bad betrachtete er sie
staunend….staunend weil sie noch für Minuten so klar vor seinem Gedankenauge vorbeizogen, als wäre er
gleichzeitig in zwei Welten. Doch schon nach Minuten verblassten sie, wurden zu Nebelgewölk und
schließlich gab es nur die wache Gegenwart...das Licht am Spiegel.
Er hatte sich zu beeilen, es gab Termine mit einem Galeristen und einem Kunden. Vom Ideal Kunstmaler zu
sein, ist vor allem Auftragsarbeit, Selbstmanagement und Termindruck geblieben...oft auch an den
Wochenenden oder an Abenden, genau in der Zeit da andere sich entspannen und vergnügen...und
diese Gegensätze wird nur begreifen, der in seiner Welt lebt. Aber was solls, er hat seinen Jugendtraum
zum Beruf machen können, muss sich nicht einreihen in die morgendlichen Staus oder in die präparierten
Silouhettenanhäufungen in Bahnen und Bussen...ein Luxus. Doch einige Klischees blieben hängen. Er mag
doch lieber den Rotwein als das Bier und wenn er tatsächlich mal ein Bild für verhältnismäßig viel Geld
verkaufen konnte, gab es eine von diesen wilden Partys, spontan und urbändig...als wäre nur jenseits allem
Organisiertem die wahre Freude anzutreffen...Man rauchte fette Zigarren, knutschte und wer Lust hatte
setzte sich in die alte Zinkbadewanne im Hinterhof...Oft war dort mehr Betrieb als in seinem Miniloft, einer
Mischung aus Wohnbereich und Atelier. Aber sein insgeheimer Traum blieb und rief immer wieder nach
ihm…
Er hatte nur seiner Sybille und seinem Freund Holger davon erzählt: Einmal das Malen wovon er nachts
geträumt hat...morgens wenn die Bilder noch am Gedankenauge vorbeizogen und er noch in zwei Welten
sieht…
Holger war Musiker durch und durch. Nicht selten hatte er schon nach seinem Spiel Klangfarben sehen
können und hatte Lust Melodien zu malen. Holger verstand so Vieles was man mit Büroangestellten
schwerlich besprechen konnte. Und er war auch da wenn mal Möbel zu schleppen waren und Wände
verputzt werden mussten. Für einen Künstler war er einfach erstaunlich alltagstauglich. Aber seine
grandiose Sensibilität im Spiel war durch keine Äußerlichkeit erkennbar. Er verhielt sich wie ein x-beliebiger
Angestellter, kleidete sich eher grau in grau und redete nur sehr sehr selten von sich. Holger war ein echter
Musiker, ein Zuhörer...manchmal ging er am morgen nach den Partys in den Hinterhof und spielte mit einem
Zungenplättchen das Zwitschern der Spatzen nach...morgens um 6…und er konnte tatsächlich
Sprechmelodien mit einer simplen Einkaufstüte nach rascheln...Manchmal machte er uns damit ganz subtil
klar, nicht zu viel Schwachsinn von uns zu geben...oder die Selbstinszenierung nicht über die Nasenspitze
hinweg zu treiben. Niemand wußte woher er seine Lebensweisheit hatte, doch er war jemand, der auch
die schlimmen Dinge aussprach, der einen fürchterlich beschimpfen konnte und vergaß wenn es erledigt
war.Menschen die man so selten trifft…
Lange hatte er mit Sybille nicht über Holder reden können. Schon kurz nach dem Sybille bei einer dieser
Partys zusammen mit Holger auftauchte, war klar, sie ist es! Natürlich war Holger Trauzeuge und natürlich
war er Pate für den kleinen Max, der bald zur Welt kam und er war so gut darin, freute sich fast so, als sei
er ein zweiter Papa. Max konnte noch nicht mit seinen Milchzahngelall genau sagen was ihm an Onkel
Holger gefiel, aber sein quietschendes Lachen war wohl Ausdruck allerhöchster Freude wenn Onkel Holger
mit einer Vogelstimme einen Streit zwischen Spatzen nachahmte.
Sybille, erinnerte sie sich daran was er ihr mal als seinen Maltraum erzählte? Seit 500 Tagen gab es
soetwas wie Alltag. Max musste zur Tagesmutter und Sybille ist Stationsärztin in einer chirurgischen Klinik.
Die morgendlichen Abläufe sind fast minutiös getimt und immer wieder zeitoptimiert worden. Die
Vorschläge von Sybille nickte er meist nur ab. Sie hatte eine sehr sanfte Art ihm all dies anzutragen und
wenn er sieh ansah und den kleinen Max, wusste er auch weshalb er nun viele Abendveranstaltungen
wegließ und mehr Auftragsbilder malte...er wollte auch für seine Familie sorgen. Die nicht mehr ganz so
wilden Partys fanden noch immer in seinem Miniloft statt, das er als Atelier und Zufluchtsort behalten hatte –
auch nachdem er mit Sybille in eine sehr großzügige 4 Zimmerwohnung mit Gartennutzung ziehen konnte.
Real war sein Einkommen doch sehr schwankend aber beide zusammen hatten mehr als andere Paare in
ihrem Bekanntenkreis.
Und dann kam wieder einer der 500 Tage...Er glaubte Sybille schliefe noch und Kleinmax schlummerte in
süßen Träumen, als er im Bad stehend, einem Traumbild nachspürte. Er versuchte es zu imaginieren, in
seinen Gedanken zu speichern, starrte in den Spiegel und das Bild wurde laut...es gab Töne wie eine
Geräuschcollage von Tierstimmen, fahrenden Autos, Zügen, galoppierenden Pferden, Düsenjägern...und
dann nichts als Windrauschen und diese Landschaft ...die sicher nix Irdisches war...die warm wurde in ihm,
als sei er nach einer überraschenden Ehrung sprachlos...wie nach dem Ja Wort von Sybille...wie nach dem
ersten „Auf dem Dach-Gespräch“ mit Holger…
Es gibt diese Momente in denen man imaginär weiß, wie nah man etwas kommt, dass nur selten da
ist...und es war heute sehr nah. Er wusste unmittelbar nach dem Aufstehen, dass er schnell ins Atelier muss.
Sybille rief vom Schlafzimmer aus: „Kannst Du bitte die Kaffeemaschine anstellen und nach Max sehen?“
In der inneren Sicherheit, die Imagination würde halten und in seiner äußeren Freude Max mit
Aufwachstrampeln zu sehen….man, was für ein Glück er hatte! Die Windel war voll und man musste ihm
nicht sagen, dass Max lieber einen sauberen Popo hätte und natürlich war klar, dass er die morgendliche
Frischkur für Max auch öfter sein Ding war. Das fröhliche Lauttieren von Max strahlte dabei wie eine Sonne
in ihn rein und nicht selten waren diese Momente das, was ihn tagsüber bei nervenden Hin- und HerVerhandlungen mit seinen Auftraggebern die Welt gelassener sehen lies.
Max war ausgeschlafen und ruderte wild mit den Armen...beim Po abwischen und Pudern und
Neueinwindeln sah er ihn unentwegt an...diese Sonne des Lebens...fertig! Er nahm Max auf den Arm und
ging mit ihm zum Kühlschrank, zum Küchenschrank, zur Kaffeemaschine und zum Küchentisch...das
gemeinsame, kurze Frühstück war trotz aller Morgenhektik immer eine feste Größe geblieben. „Kannst Du
bitte Max zur Tagesmutter bringen, ich muss heute zuerst in die Verwaltung?“. Sybille kam mit einem
Handtuchturban aus dem Bad und gab ihm einen nicht gewöhnlichen Gutenmorgenkuss...und hätte er nicht
gerade Max auf dem Arm…
Einige Minuten später sabberte Max etwas von dem Morgenbreichen ins Sabberlätzchen, es war
genug...und wiederum einige Minuten später lag er im Ausgehstrampler im Kinderwagen und wurde nun
von Papa zur Tagesmutter kutschiert. Irgendwie ging er immer etwas aufrechter mit
Kinderwagen...Morgens war der Park auf dem Weg so wunderbar und die Spatzenschimpfereien
erinnerten ihn sofort an Holgers Stimmenspielereien mit Max…und an seine Imagination, sie war noch
immer da, während er den Kinderwagen zum Haus der Tagesmutter schob.
Die Absprachen mit der Tagesmutter waren klar und es bedurfte nicht vieler Handlungen und Worte. Max
war erstaunlich ruhig beim Abschied und schaute schon auf das kleine Klangspielzeug in der Hand der
Tagesmutter...zweimal winken und dann entfernte er sich zu seinem Tag, ein Tag im Atelier, vielleicht der
Tag der Traumimagination…
Zu Fuß war es nur eine Viertelstunde bis ins Atelier, seinem Miniloft und die besondere Leinwand stand seit
Jahren an einem besonderen Ort, griffbereit...Die Pinsel waren sauber und es gab keinen Mangel an
Farben. Er hatte immer gewusst: wenn dieser Tag käme musste es schnell gehen, bevor die
Traumbildsilhouetten verblassen...und nun stand er hier und suchte nach seiner Imagination, auf dem Weg
zur Tagesmutter konnte er sie noch sehen, sie war schon schwächer als morgens, als er allein vor dem
Spiegel stand, als sähe er durch seine Gesichtsfront in die Zellenwelt der Träume...Nun strengte er sich an
dieses Bild zurückzuholen, das ihm am Morgen verhieß, das zu tun was in ihm schon immer zum Malen
trieb...seine Technik, seine Geduld , sein Entdecken...Das Bild wollte nicht mehr aus den Gewühl von
Straßenlärm, Vogelgezwitscher, Kaffeemaschinenglucksen und den kurzen Morgendialogen mit
PassantInnen klarwerden. Es blieb im Gewölk, dort woher es kam….Was hatte er an diesem Tag
gehofft...Er stand vor der Leinwand und zerbrach seine Pinsel, ging aufs Dach...Holger war nicht da..