Schlecht sitzende Hosen

Innerer Monolog zum Thema Identität

von  eiskimo

 

Er thront auf meinem Stuhl, an meinem Schreibtisch. Er hat dieselbe Pose, er hat  meine Art, sich über die Akten zu beugen, er hat auch exakt denselben Tick, jedes neu aufgeschlagene Blatt erst einmal glatt zu streichen. Er redet wie ich, er kopiert meine Satzmelodie, den leicht rheinischen Akzent, die intensive Gestik. Er ist echt mein Double. Derselbe Eindruck am Telefon: Er  wird so laut und theatralisch wie ich, er lacht viel zu viel, lacht viel zu oft, findet kein Ende.

Nee, er gefällt mir nicht. Diese Wichtigturei. Das ist alles Schablone. Rollenspiel. Okay, sag ich mal: Er muss mich ja nicht toppen. Viele Abläufe sind halt Routine. Die sind vorgegeben. Da kann er nicht jedes Mal sich neu erfinden. Mich neu erfinden. Aber an seiner Kleidung könnte er mal was tun. Sein ganzes Outfit – bin ich wirklich so langweilig? Leicht ungepflegt mit diesen schlecht sitzenden Hosen, Schweißränder am Hemd, leichter Mundgeruch…..

Genug! Ich kann ihm das nicht vorhalten. Ich kenne ihn halt viel zu gut. Quasi von innen. Da wäre es unfair, ihn hier bloßzustellen mit all seinen Nöten. Er muss schließlich liefern. Tag für Tag.  Schlüpft immer wieder rein in seine Pflichten. Sehr beflissen. Wie in seine schlecht sitzenden Hosen.

Gut, dass ich für meinen Teil den Ausgang gefunden habe. Raus nach draußen. Abstand. Da sieht man sich mit ganz anderen Augen. Irgendwie befreit.
Die Frage ist: Wie bringt man, ohne sich zu zerreißen, seine brutalen Erkenntnisse an den Mann?



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Kommentare zu diesem Text

Taina (39)
(14.06.22, 08:38)
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 Graeculus meinte dazu am 14.06.22 um 09:30:
Es kann erschreckend und abstoßend sein, wenn man seine eigenen Eigenschaften bei anderen sieht. Spricht man sich nicht auf diese Weise selbst ein Urteil?
Taina (39) antwortete darauf am 14.06.22 um 09:39:
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 Graeculus schrieb daraufhin am 14.06.22 um 17:15:
Solange man mit sich identisch ist, sollte das nur eine scheinbare Umkehrung sein.

 eiskimo äußerte darauf am 14.06.22 um 17:35:
Ja, so war es gedacht. Im wahrsten Sinne ein Selbst-Versuch
Taina (39) ergänzte dazu am 14.06.22 um 23:14:
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 eiskimo meinte dazu am 15.06.22 um 06:12:
Schablone, Rollenspiel, Erwartungsdruck von Partner, Kollegen.... Man modelliert sich nicht so einfach mal eben um.
Nenn es Feigheit.
Taina (39) meinte dazu am 15.06.22 um 06:19:
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 eiskimo meinte dazu am 15.06.22 um 07:00:
Selbstbild, das klingt nach klaren Konturen, nach etwas Fertigem. Ich empfinde das eher als diffus und fließend, eine höchst unfertige Projektion mit vielen Leerstellen.

 EkkehartMittelberg (14.06.22, 10:30)
Um die Schlussfrage zu beantworten. Indem man nicht alles auf einmal zu ändern versucht, sondern sich Zeit dabei lässt.

LG
Ekki
Agnete (66) meinte dazu am 14.06.22 um 19:29:
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 AlmaMarieSchneider (14.06.22, 13:03)
Eine interessante Sicht auf sich selbst. Äußerlichkeiten sind kein Problem, sofern man sich wohl fühlt sind die leicht zu ändern. Die Seele ist das Problem, der Charakter. Da braucht es mehr als eine neue Hose und eine beratende Verkäuferin.

Guter Text.
LG
Alma Marie

 eiskimo meinte dazu am 14.06.22 um 15:28:
Danke.
Ich frag mich oft, wie ich mich.. selber wahrnehme.  Gefangen in meine eingespielten Mechanismen, mit denen ich mich nach aussen verkaufe oder auch mal aus einer ganz neutralen oder auch schonungslosen  Sicht...
LG
Eiskimo

 AlmaMarieSchneider meinte dazu am 14.06.22 um 18:57:
Lieber Eskimo,

man muss immer gut zu sich selbst sein.

Ein Lächeln
Alma Marie

 eiskimo meinte dazu am 14.06.22 um 23:09:
Gut zu sich selbst, das heißt ja nicht automatisch "alles gut findend". Man muss auch Distanz zu sich selbst einnehmen können und an sich arbeiten - vielleicht im Dialog mit anderen.
LG
Eiskimo

 AZU20 (15.06.22, 17:09)
Schwere Entscheidung. LG
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