Guten Morgen!

Innerer Monolog zum Thema Momente

von  eiskimo

Es ist 6.41 Uhr. Ich habe gut geschlafen, musste nur ein Mal raus. Hinter dem Fenster arbeitet sich gleißend die Sonne hoch. Es könnte heiß werden.  Hallo, neuer Tag! Auch Du hast eine Chance verdient.  Ich bin noch unentschieden: Eher Genuss oder eher Leiden? Leiden, das wäre dieses Mitleiden. Aus sicherer Distanz.

Aber ich habe das Radio noch nicht an gemacht. Will den Irrsinn nicht hören. Nicht den Frontverlauf, nicht die Fluchtkorridore und auch nicht den Stand der Waffenlieferungen. Erst einmal einen Kaffee. Ja, lieber Tag, es ist 6.53 Uhr, und ich entscheide mich für Genuss. Ich bin so frei.



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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (15.06.22, 09:08)
Schön!

Was wäre die Welt doch öde und grau ohne

Kaffee.

 eiskimo meinte dazu am 15.06.22 um 19:16:
Das Getränk an sich hilft, aber auch die Rituale drum herum.

 AZU20 (15.06.22, 15:18)
Früh aufgestanden. LG

 eiskimo antwortete darauf am 15.06.22 um 15:20:
Senile Bettflucht...

 BeBa (15.06.22, 15:27)
Weise Entscheidung für den Morgen. Der Rest verfolgt dich noch den ganzen Tag.

 Graeculus (15.06.22, 15:36)
Arik Brauer: Die Jause (1971)


[gesprochen:]
Du ißt ein Kipferl, trinkst ein‘ Kaffee –
und derweil passier’n Sach’n ...
 
[gesungen:]
Ja da setz ich mich zur Jaus’n
Gar so sicher und so fesch,
weil ich will ein Kipferl schmaus’n,
ja das Kipferl is‘ so resch [knusprig].
G’rad hab ich die Butter auffepatzt
und denk mir nix dabei,
da is‘ einer g’storb’n als wie ein‘ Häuselratz [Kloratte] –
weg’n dera Hungerei.
 
Das Kaffeeheferl tu ich ruck’n
und ich gieß mir am Kaffee
weißes Schlagobers drüber gupf’n
und ich träum vom ersten Schnee.
Grad hab ich den Zucker eineg‘schupft
und denk mir nix dabei,
da sind s‘ ihrer zwölfe über’s Messer g’hupft
weg’n der Faschisterei.
 
Und ich tunk das Kipferl eine,
ja ich weich’s ein bisserl auf,
und dann schließ ich meine Augerl
und ich reiß die Pap’n [Maul] auf.
Grad hab ich das Kipferl eineg’steckt
Und denk mir nix dabei,
ja das ist ein‘ ganze Stadt verreckt, -
weg’n dera Bomberei.
 
Und ich heb in die Höh‘ das Heferl,
ja ich nehm an gut’n Schluck
und mei‘ Zungen holt das Kipferl
aus der Back’n mit ein‘ Ruck.
Grad hab ich das Kipferl abebampft
Und denk mir nix dabei,
ja da ist die ganze schöne Welt verdampft, -
weg’n einer Streiterei.

 eiskimo schrieb daraufhin am 15.06.22 um 16:56:
Sehr schön, dieser Text. Und Brauer bietet deutlich mehr als mein Morgen-Dilemma.

.

 Graeculus äußerte darauf am 15.06.22 um 17:13:
Die Intensität, mit der er das Erleben des Genusses beschreibt ... und dann am Ende jeder Strophe eine kurze, knochentrockene Bemerkung über das, was in diesem Moment gerade in der Welt passiert. Kein moralischer Aufruf, nur eine Beschreibung.

Arik Brauer war nicht nur Musiker, sondern auch ein Maler in der Schule des Wiener Phantastischen Realismus. Und er war Jude, hat teils in Wien, teils in Jerusalem gelebt.

 eiskimo ergänzte dazu am 15.06.22 um 19:12:
Danke, es macht Spaß,  so die Dinge zu vertiefen. 
Der Text passt hier wirklich perfekt!

 diestelzie (15.06.22, 16:43)
Kluge Entscheidung!

Liebe Grüße
Kerstin

 eiskimo meinte dazu am 15.06.22 um 16:58:
Es wirkt egoistisch, aber man kann nicht rund um die Uhr mitsterben
LG
Eiskimo

 Graeculus meinte dazu am 15.06.22 um 17:17:
Das hält man aus freien Stücken nicht aus, in diesem ständigen Bewußtsein zu leben. Kann auch ich nicht.
Andererseits ... die Menschen in der Ukraine haben die Wahl nicht, sie müssen so leben. Sicherlich ohne Kipferl.

 eiskimo meinte dazu am 15.06.22 um 19:14:
Vielleicht haben wir da einen Schutzreflex.

 diestelzie meinte dazu am 15.06.22 um 19:25:
Den haben wir definitiv, lieber eiskimo. Anders können wir das Leid nicht ertragen.

 Fridolin meinte dazu am 16.06.22 um 01:23:
Ich wär‘ so gern auf der Seite der Guten.
Finde nur leider keine, die man so nennen könnte.
Arik Brauer: ... wird -  (1971) - Vietnam im Kopf gehabt haben beim Singen, da war‘s noch schön einfach.
Heute wollen sie alle weitermachen mit Köpfe einschlagen. Man lässt die anderen, die Kleinen sich schlagen. Man kann wirklich Nachrichten-phobisch werden.
Du willst Frieden? Abrüsten? Pfui Teufel, geh in Dich, das kannst Du doch nicht ernst meinen.
Ja, auch ich trinke weiter Kaffee, aber er schmeckt einfach anders seit Februar.

 lugarex meinte dazu am 16.06.22 um 05:58:
Oh, jessas da fallt mir ei,

I hab Knoblauch gessen heut,
https://www.songtexte.com/songtext/ludwig-hirsch/gel-du-magst-mi-43d8dfb7.html


Arik Brauer ist genial, Ludwig Hirsch ist auch gut...

Ohne Kaffee (und Knoblauch) kein Schritt in den Tag*
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