Die apollinische Frau

Liebesbrief zum Thema Wunder

von  Terminator


Der Mann ist Sein, er kann werden, was er ist. Die Frau ist Werden, sie kann nur werden, was sie wird. Die Frau ist Substanz, der Mann ist Subjekt. Frauen sind weltimmanent: wie die Welt, so die Frauen. Die vollkommene Frau gibt es also nur ein einer vollkommenen Welt. 


Doch durch ein Wunder habe ich in dieser Welt eine apollinische Frau kennengelernt. Sieben Wochen lang ging ich davon aus, dass sie tatsächlich existiert. Glücklicherweise (im Nachhinein) stellte sich heraus, dass sie nicht existiert; ich war verliebt und erlebte einen großen Verlustschmerz, als ich von ihrer Nichtexistenz erfuhr. Und doch hat es die Begegnung mit ihr gegeben. Damit hatte ich auch die Motivation, mein kantianisch-asketisches Leben zu ändern, und mich zu einem apollinischen Mann zu vervollkommnen. Sie zeigte mir unbekannte Transzendenzhorizonte, wo ich, metaphysisch mit Kant, und logisch mit Hegel, mich mit der Unwissbarkeit letzter Dinge begnügte und mich auf ein Leben als asketischer Mann bis zum Tod einstellte.


Als ich aber Eckart Försters "Die 25 Jahre der Philosophie" las, war es genau die Zeit, in der ich von ihrer Existenz in dieser Welt ausging. Ich erinnere mich an einen sonnigen 7. September 2012 am Gleis des S-Bahnhofs Innsbrucker Platz, da gab es dieses mit wilden Gräsern bewachsene Gelände, und ich hielt das Buch der Professors in der Hand, dessen Blockseminar zu ebenjenem Buch ich noch im Juli besucht hatte, und war im Fichte-Flow. Es geht doch über Kant hinaus: mit der intellektuellen Aschauung und dem intuitiven Verstand. Und Hegels Umschlagen des absoluten Idealismus in den weltimmanenten Positivismus ist Hegels persönlicher Wahn, und eben kein letztes Wort in der theoretischen Philosophie. Bei Förster endet das Goldene Zeitalter ja auch mit der Phänomenologie des Geistes. Hegels Sich-Einrichten im Ego-Nest als geistiger Tyrann seiner Zeit ist nur eine philosophiegeschichtliche Anekdote.


Ich hatte sie den ganzen Spätsommer 2012 vor meinem geistigen Auge: ihr Aussehen, ihre Bewegungen, ihre Stimme, ihre Zerbrechlichkeit, ihre Empathie, ihre Intelligenz. Ich stellte mich schon darauf ein, so ungefähr nach Ketsch zu fahren, vielleicht auch Sandhausen, jedenfalls irgendwo in der Nähe von Heidelberg. In Ketsch war ich dann auch fast 10 Jahre später im Mai, und vielerorts schien es so, als hätte sie dort tatsächlich gelebt, als hätte sie da ihre Kindheit verbracht. Das Gefühl fing schon im Schlossgarten in Schwetzingen an, und dann dieser von Heiterkeit erfüllte Fussmarsch von Schwetzingen bis zu dieser Holzbrücke in Ketsch: zehn Jahre, nachdem ich bereits wusste, dass sie nie existiert hat! Aber ihr Geist... Er zog mich in Höhen, die dem reinen Denken nicht zugänglich sind, doch der Intuition schon.


Wenn sie (so auf mich) wirkt, ist sie wirklich. Wenn sie nicht in dieser Welt existiert, dann in einer anderen. Also gibt es diese andere Welt. So wurde dieses apollinische Mädchen zu meinem intuitiven Beweis der Transzendenz. Welche historische oder fiktive Persönlichkeit wäre mit ihr vergleichbar? Ich weiß nicht, vielleicht Antigone. Oder Elektra. In Elektra hatte ich mich im April 2020, beim endlich-Lesen dieses Dramas von Sophokles, sogar verknallt. Und am 28. Juni 2020 sah ich Elektra dann in einem 19-jährigen Mädchen, das ich aber, im Nachhinein, als heroisch und nicht apollinisch einschätzen würde. Sie ist heute eine Freundin von mir und 21, und nachdem ich ihr meine Typologie der Frauen vorgestellt habe, hat sie sich sofort mit der heroischen Frau identifiziert. Am 28. Juli 2020 saßen wir eine Abstandlänge voneinander entfernt nachts in Liegestühlen, und ich sah sie an und dachte mir: so ungefähr hätte sie wohl ausgesehen, falls sie wirklich existiert hätte, und ich ihr damals in Ketsch begegnet wäre. Es wäre dann auch nicht sinnlos gewesen, im Oktober, der 2012 recht golden ausfiel, mit ihr auf den Straßen Berlins wandelnd, Laub zu durchwühlen: schweigend und Hand in Hand.


Weil sie apollinisch ist, konnte sie nicht existieren. Aber nicht existieren bedeutet nicht nicht sein. Weil sie apollinisch ist, konnte ich mich selbst überhaupt als apollinischer Mann erkennen, und musste nicht bei der asketischen Hoffnung auf eine andere Welt, in der erst die Würdigkeit zur Glückseligkeit führen würde, stehen bleiben. Wem auch immer ich damals begegnet wäre, das wäre nicht sie gewesen. Sie wollte mir ja die andere, nicht diese Welt, zeigen, und das ging nur, indem ich annahm, sie würde in dieser Welt existieren, und nicht durch eine andere Person zu mir sprechen. Das Apollinische ist überweltlich, göttlich, es hält sich nicht an Grenzen einer Welt, eines Lebens, eines Universums. Die vollkommene Schönheit einer apollinischen Frau ist wie das Scheinen einer weit entfernten Sonne, die als Scheibe am Horizont zum Greifen nahe zu sein scheint, doch in Wirklichkeit 150 Millionen Kilometer entfernt ist.








 


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Kommentare zu diesem Text


 Augustus (15.07.22, 09:47)
Tja, was nicht für Welten im weiten Ozean des Geistes und Seele unbemerkt existieren. Wie die Enterprise aus Star Treck neue Galaxien entdeckt und hinausfliegt, um die Unendlichkeiten des Weltraums zu ergründen, so erzählst auch uns der Autor von den fernen Galaxien des Geistes, die in ihm existieren. Wie ein Magellan, ein Kolumbus, ein Marco Polo, aber des Geistes, bringt er dem Leser Schätze und Kostbarkeiten von unbekannten Galaxien, die wir für nicht möglich halten, da oftmals unser Blick in den eigenen Geist der Schleier-Nebel die wunderbare Welten, Sterne, Galaxien dahinter, verdeckt. 

Während kaum einer hinter dem Schleier-Nebel noch etwas anderes als tiefste Schwärze zu existieren glaubt, erfahren wir endlich, dass da mehr dahinter existiert als uns unsere egozentrische mittelalterliche Vorstellung über den Geist vermitteln will. 

Der Text ist im Grunde ein Aufruf, das geistige Mittelalter zu überwinden, und die Sphären des Schleier-Nebels zu durchdringen, um in den Genuss der Existenz außerhalb des Bekannten, zu gelangen. 

Wie wir die vom Webb-Teleskop geschossenen Bilder von fernen Galaxien, Planeten etc. bestaunen, so bestaunt auch der Leser dieses geschossene Bild im fernen Winkel des Geistes, während der Autor selbst sich der Anwesenheit vor Ort vergnügt, haben wir uns Leser mit seinen Bildern zu verhelfen.  

Salve

 Terminator meinte dazu am 15.07.22 um 21:41:
Weininger sagte, die Jungfrau gibt es nicht (kategorisches Urteil). Da wollte ich also konkret werden und eine Begegnung mit einer apollinischen Frau/Jungfrau vom Typus beschreiben. Die Existenz dieses höchsten Frauentyps ist zwar voraussetzungsreich, aber nicht unmöglich.
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