Der Verlust von zwangsbeziehungsbedingt nahestehenden Menschen (kurz: Verwandten) hat etwas unfreiwillig Komisches. Ja, du hast durchaus die Oma geliebt, aber freilich nicht wie eine romantische Geliebte. Ja, sie war alt, über 80, und doch wird von dir etwartet, so zu tun, als wäre ihr Tod eine unerwartete Katastrophe. Ja, sie war katholisch und sehr gläubig, und doch klammerte sie sich in einer Situation ans Leben, in der selbst die Resigniertesten unter den Atheisten sich mit dem normalen Gang der Dinge längst abgefunden hätten.
Für mich war die Situation unfreiwillig komisch auf gedoppelte Weise: zum sozialen Zwang, die tatsächlich empfundene Trauer maßlos zu übertreiben, kam hinzu, dass ich, zu dem Zeitpunkt längst Philosoph und weisheitlich weit entwickelter asketischer Mann, mich mit meiner eigenen Sterblichkeit bereits versöhnt hatte, und sei es, dass mein Leben zum Todeszeitpunkt nur aus Leid und Entbehrung bestanden hätte. Ich war schon über mich selbst hinweg und dachte: "So, welche Pflichten habe ich noch in diesem Leben zu erfüllen?" Ansprüche zu stellen, kam mir nie in den Sinn. "Aber Onkel P aus Q wurde doch 90!" hätte ich auch mit 33 Gott nicht entgegengeklagt, hätte er mich mit einer Krebsdiagnose gesegnet.
Und so hatten meine Eltern im Unrecht recht: meine Mutter verlor ihre Mutter, mein Vater verlor seine Schwiegermutter. Und von mir, der offenbar keinen Verlust zu verarbeiten hatte, wurde emotionaler Beistand und Verständnis für Launen erwartet. Rein höflichkeitlich gesehen, war das ein wenig ungezogen: Oma, das ist schleißlich eine andere Bezeichnung für meine Großmutter. Aber den persönlichkeitsreifetechnischen Tatsachen entsprechend war ich der Reifere, Weisere, Ältere, an den man sich wendet, wenn man Rat und Trost sucht.
Ich verbrachte viel Zeit mit der Oma in ihren letzten Wochen und Tagen. Die Zeit des Sterbens und der Trauer um sie war auch die Zeit, in der ich aus Berlin wieder nach Niedersachsen zog; zehn Monate waren das insgesamt. Und Berlin begann mir zu fehlen: ich hatte die positiven Seiten der Großstadt zu selbstverständlich genommen und war in meinen ersten 5 Berliner Jahren eher auf die negativen Seiten des Großstadtlebens fokussiert.