Wachsamer Nachbar trifft Jacques Brel

Geschichte zum Thema Misstrauen

von  eiskimo

Seit zwei Tagen parkt vor unserem Haus ein ziemlich ramponierter Kastenwagen, etwa in Höhe der Mülleimer-Boxen, kurz vor den Garagen. Das Nummernschild ist irgendetwas Ausländisches und kaum mehr lesbar, reingucken kann man auch nicht, die Scheiben sind maskiert. Der steht da schon seit zwei Tagen. Wir wohnen in einer Spielstraße, keiner der Anwohner hat Handwerker bestellt oder will umziehen. Keiner führe so eine Karre!Wohnen da Hippies drin? Will uns jemand ausspionieren? Oder ist da Diebesgut abgelegt, vielleicht Waffen oder Drogen?

Ich schaue immer wieder aus dem Küchenfenster, um vielleicht einen Blick zu erhaschen auf die Freunde, die sich da einfach hingestellt haben. Es ist ja schon etwas unheimlich. Jetzt bin ich sicher schon zum achten oder neunten Mal an meinen Ausguck zurückgekehrt, mit wachsamem Blick. Da erschallt doch aus dem Küchenradio, das den Vomittag durch läuft, tatsächlich ein Chanson. Ich erkenne es sofort: Jacques Brel. Und so ein Zufall, es ist „Regarde bien, petit“. Das kenne ich auswendig.


Pass auf, Kleiner, pass gut auf!

Dahinten, in der Ebene,

bei den dunklen Büschen

zwischen der Mühle und dem Stück Himmel,

da nähert sich jemand.

Einer, den ich nicht kenne.

Pass gut auf, Kleiner, pass gut auf!


Es könnte ein ehemaliger Nachbar sein,

irgendein Reisender, der sich verirrt hat,

einer, der aus dem Krieg nach Hause will,

ein Händler mit Krimskram,

vielleicht auch einer dieser Pfaffen,

der uns fromme Geschichten erzählt,

die den Alten beim Sterben helfen .

Es könnte auch mein Bruder sein,

der kommt, um mir vorzuschlagen

uns endlich weniger zu hassen.

Oder ist es nur der Wind,

der den Staub hochwirbelt,

damit wir staunen - staunen

als eine Art Zeitvertreib


Nein, es ist kein Nachbar,

denn sein Pferd ist zu stolz,

um von hier zu sein

zu stolz auch für den Krieg.

Es ist auch kein Pfaffe,

denn sein Pferd ist zu mager,

dass es mal der Kirche gehörte.

Es ist auch kein Händler;

dafür ist sein Pferd zu groß,

seine Kleidung zu hell.

Nein, seit Vaters Tod

hat ja überhaupt keiner mehr

die Brücke hier zu uns überquert

oder wüsste gar unsere Vornamen.

Nein, mein Bruder ist es auch nicht,

sein Pferd hätte getrunken,

nein, mein Bruder ist es auch nicht.

Er würde es auch nicht mehr wagen,

und er fände bei uns auch nichts,

was ihm noch nützlich sein könnte.

Nein, es ist nicht mein Bruder.

Mein Bruder –der ist für mich tot,

und dieser Schatten jetzt am Mittag,

der erschiene auch viel drohender,

wenn er es denn wäre.

Komm, es ist sicher nur der Wind

der ein bisschen Staub hochwirbelt

für uns als Zeitvertreib.


Pass auf, Kleiner, pass genau auf!

Dahinten, in der Ebene,

bei den dunklen Büschen

zwischen der Mühle und dem Stück Himmel,

der Mann da, der kehrt gerade um;

den werden wir wohl nicht mehr sehen.

Pass gut auf Kleiner, pass genau auf!

Und wisch schon mal deine Tränen ab.

Denn der geht wieder weg, der Mann.

Nein, den werden wir nie kennenlernen.

Du kannst jetzt die Flinte wegräumen.


Ein tolles Lied, kann ich nur sagen. Es ist schon über fünfzig Jahre alt. Aber die Story ist ja zeitlos.

Ich habe mich vom Fenster abgewandt, mich ganz auf Jacques Brels markige Stimme konzentriert, auf diese so eindringlich geschilderte Szene.

„Tu peux ranger les armes.“ Damit endet das Lied. Ich wende mich wieder meinem Ausguck zu, will das bedrohliche Fahrzeug wieder in den Blick nehmen – es ist weg!



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Kommentare zu diesem Text

Taina (39)
(16.08.22, 08:40)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 eiskimo meinte dazu am 16.08.22 um 10:59:
Danke!
 So sehe ich das auch;  ein zeitloser Reflex.
LG
Eiskimo

 Dieter_Rotmund (16.08.22, 09:08)
Naja, bisschen arg moralisch. Dieses "Ein Fremder ist ein Freund, den ich noch nicht kennengelernt habe" finde ich doch zu doof. 
Dass es keine Handwerker sind, das ist die frohe Botschaft des Textes! Handwerker machen Lärm, machen Dreck, kosten Geld.

 eiskimo antwortete darauf am 16.08.22 um 11:00:
Reden wir vom selben Text???

 Dieter_Rotmund schrieb daraufhin am 17.08.22 um 11:10:
Ja sicher, das ist der Geist des Brel-Liedes.

 Graeculus (16.08.22, 12:48)
Ein sehr schöner Einfall, eine Alltagsszene mit einem Lied resp. Chanson zu verbinden! Der Übergang vom einen zum anderen Teil durch eine Radiosendung ist von der Art, daß man sagen möchte: "Zufälle gibt's!"

Das Lied ist schön und macht mir in einem Detail bewußt, wie man damals noch ein Wort umstandlos benutzen konnte, das heute aus dem Wortschatz verschwunden zu sein scheint: Pfaffe. (prêtre?)

 Hobbes äußerte darauf am 16.08.22 um 14:25:
Guten Tag eiskimo,

wunderbar erzählte Geschichte, die mich an die ganz großen dieses Genres erinnert!

Sommerliche Grüße

Peter

 eiskimo ergänzte dazu am 16.08.22 um 14:36:
Ich danke Euch beiden für das positive Feedback, gebe es gerne an den großen Jacques weiter...
@ Graeculus
Der Pfaffe ist im Original ein "abb'e",  und das mit dem Zufall hast Du schön gesagt!
LG

 Graeculus meinte dazu am 16.08.22 um 17:16:
Aha. Der Abbé ist aber eine neutralere Bezeichnung als der Pfaffe, oder?

 eiskimo meinte dazu am 16.08.22 um 17:27:
Ja, das entspricht dem Kaplan. Pfaffe wäre "corbeau", also Rabe.
Das hätte in dem Chanson, denke ich, missverständlich geklungen. Aber die Übersetzung ist natürlich etwas wertend...

Antwort geändert am 16.08.2022 um 19:50 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 16.08.22 um 17:59:
Zu Jacques Brels Zeit war "Pfaffe" in Deutschland noch gängig. Ich meine, ich hätte das damals sogar in Eindeutschungen von George Brassens gehört.
Die beste Übersetzung hängt m.E. davon ab, welche Einstellung Brel zu Klerikern hatte.

"corbeau/Rabe" ist optisch gut nachvollziehbar, wenn man an die schwarze Kleidung denkt.
Balzacs Sprache ist in dieser Hinsicht sehr variantenreich.

 eiskimo meinte dazu am 16.08.22 um 19:57:
Wenn Du "Les Bigotes" hörst, erkennst Du Brels Einstellung zur Kirche. Aber auch in "le moribond" (seasons in the sun) drückt er es deutlich aus. Er verabschiedet sich aus dem Leben speziell auch beim Pfarrer mit den Worten: Ich mochte dich,  denn unser Zielhafen war durchaus derselbe,  nur haben wir gänzlich andere Routen gewählt.
Balzac kenne ich nicht so gut wie Brel.
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