Ich erinnere mich nicht, sagte Scholle Cums Ex (Gespräch in der Psychiatrie - Romanauszug)

Bild zum Thema Abgrund

von  alter79

Du hast Eier, Mann, - einfach hier lang zu gehen ... - Da erst merkte er den Verlust seiner Selbst so richtig. Ist raus, aus der Behütung der Klinik. Befindet sich in der verfallenden Welt, die so kaputt ist wie er selbst. Läuft zwischen nackten Hauswänden, die herumstehen als Reste einer Zivilisation. Im Gestank. Haufenweise Müll. Zwischen Matratzen und alten Autoreifen, als eine Erinnerung an bessere Zeiten von Familie, Geborgenheit, Heimat und Fortschritt und so weiter. Und hofft, dass die Realität ihn in Ruhe lässt - mit ihrer explosiven Wucht weiterer Zerstörung. Meter weiter uriniert ungeniert ein muskelbepackter schwarzhaariger Macker gegen eine Hauswand, dass es platscht und schwappt und weiß schäumend in den Gully der Straße läuft.
Was guckst du so?, einer mit versoffener Bassstimme, und schleppt einen Bierkasten mit sich rum, gibt den Schwafel- Philosophen.

Das Leben ist wie ein Kinderhemd, kurz und beschissen! Doch das gelingt nicht. Jedenfalls nicht bei Jimmi; es ist nur ein Indiz, dass hier Menschen mit Stärken wie Schwächen leben, die einander reizen und piesacken. Mehr nicht. Und es wird auch nicht schlechter, als ein Fernseher dicht neben ihm auf das Pflaster kracht - und sich hinter dem nächstbesten Fenster offensichtlich ein Sexabenteuer abspielt.
Ja, nimm mich!, hör man eine Frau, nimm mich fester, mach. Fick schon, du dumme Sau ...!, und dann ein Blumentopf gesegelt kommt, als er schon weiter geht. Geranien.

Das kommt sauber, was?, sagt der mit dem Bierkasten, und weint, das ist nämlich meine Alte ... Und fängt zu toben an. Ich sollte rauf gehen - und sie umlegen. Alle beide! - Meinst du nicht auch? Und das ist es, was ihn wegtreibt und gleichzeitig anzieht, diese voll latente Aggressivität. Diese prall lebensgierigen Leute. Diese Verpestung durch Kohl und alten Samen, die aus jeder Ritze der maroden Häuser strömt. Der Mief von Knoblauch und Fürzen im Geklapper von Dominosteinen und Gebetsketten in langen Heimkehrergeschichten. Die langen Bärte und kurzen Gedanken. Diese Scherenschnitte von betenden Männern mit Hintern in die Höhe - einer Art Todesengel ohne Hintergrund, aber mit Zukunft. Die Schwarzweißfotos unbekannten Daseins und detonierter Bomben. Und es fehlt ihm nicht die Angst, das Unmittelbare, der Schrecken über das Unerklärliche. Nein, es fehlt nichts, und er wundert sich auch nicht mehr, - er ist neugierig wie gleichgültig. Falls man so unentschieden entschieden an solch einem Ort überhaupt sein kann, denn nirgendwo sonst ist es so kalt, ernst und grausam wie hier. Und das will was heißen. Und nur wenige Schritte weiter ist es eine ältere Frau, so meint er, die mit dünner Stimme um Hilfe ruft - und er daraufhin den heruntergekommenen wie stinkigen Hauseingang betritt, in dem die dann tatsächlich liegt, und er sie höflich fragt: Kann ich Ihnen was helfen? Die zu ihm sagt: Den Arsch wischen, Junge, das kannst du mir ... Und da ist es dann wieder, ergreift ihn diese elende Hoffnungslosigkeit, das unbeschreibbare Gefühl hilflos zu sein, machtlos und gleichzeitig demütig zu werden, zu sein - so etwas erfahren zu können, zu müssen, und nicht von irgendwem aus zweiter Hand mitgeteilt zu bekommen, dass es so etwas wie das hier wirklich gab. Dieses Leben, solch ein Sein. Denn es ist die Ohnmachten am eigenen Körper, die wächst wie Krebs mit Metastasen, diese Tode am lebendigen Körper, das wahnsinnig werden bei vollem Bewusstsein, wenn man liegt und stirbt - an einem warmen Tag im Sommer.


Ja, es gibt schöne Häuser hier. Große Mietshäuser mit Wohnungen die einen Dienstbotenaufgang haben. Mit Hinterhöfen durch Toreinfahrten, auf denen Putten wachen, oder Adler, weiß er. So richtig großzügig geschnittene Bauwerke -, wenn die nur nicht so verfallen wären. Während seine Schuhe über den Beton knirschen, ihm alte und weniger alte Menschen begegnen, die er irgendwann wieder trifft. Alle. Und die leben, man kann es an deren warmen Ausdünstungen merken, an ihren Atemwolken, wie bei einem Wal an der Oberfläche eines Meeres der eine Fontäne ausbläst.


tote fenster
wüste augen
in der staedte
bahnhofshallen
nicht geleerte
früh verweste
spritzen löffel würfelzucker
auf dem boden
an den wänden
blut geschmiere
an den händen
hausen du und ich beisammen
eine zukunft
gibt es nicht
lediglich gepantschtes licht
das uns tag und n8
besitzt
- wünsche du wärst hier



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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (20.08.22, 07:52)
Ja,
all dies Ausgesparte existiert, wird erinnert oder wuselt im Verborgenen der Städte.

Großartig verdichtet!

 alter79 meinte dazu am 20.08.22 um 08:53:
ty 8er

ich denke dann immer an Berlin - wo ich in meinem Inkasso- Job bis in die hintersten Hinterhöfe vordringen musste. 
Fazit: ohne Mampf keinen Kampf - meiner damal. Jugendlichkeit geschuldet  *g

lgr.
79
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