Wer wohnt schon in einem Schloss?

Essay zum Thema Gesellschaft/ Soziales

von  Regina

Vom Geist einer Epoche erzählen nicht nur die schriftstellerischen Werke und die Geschichte der Politik, sondern auch ihre Gebäude.

Fast verschwunden sind die uralten, schindelgedeckten Bauernhäuser mit den kleinen Fenstern, der riesigen Küche und dem direkt ans Wohngebäude angrenzenden Kuhstall, der im Winter als Heizung diente. Die große Küche war notwendig, weil fast alles, was man brauchte, dort hergestellt wurde: Brot, Butter, Gemüsegerichte, Pökelfleisch, Sauerkraut und Kleidung. Kleine Schlafräume befanden sich im Oberstock, der ein der Witterung angepasstes Dach trug, das in den Alpen flacher ausfällt. Die Konstruktion bestand aus Holzbalken mit Zwischenräumen, dem Fachwerk. Jahrhunderte blieb diese Bauweise bestehen. Einige bis zu vierhundert Jahre alte Bauernhäuser existieren noch als Museen, die anderen hat nicht der Krieg, sondern die Zeit des Wohlstands zerstört, als Bauern die Landwirtschaft aufgaben und von den Bausparkassen ermutigt wurden, den alten Krempel abzureißen, um sich moderne Wohnhäuser ohne Viehzucht bauen zu lassen.

Als weniger beständig dürfte sich die Architektur der Gründerzeit erweisen. Da, so erzählen die alten Wohn- und Geschäftshäuser, legte man Wert auf die Fassade, die aus Sandstein konstruiert und mit klassizistischen Steinhauerarbeiten verziert wurde. Der hintere Teil besteht aus Backsteinmauerwerk, das, sofern nicht repariert, nach nunmehr etwa 120 Jahren brüchig geworden ist, weil die Mörtelverbindungen bröckeln. Die Geschichte vieler dieser Mietshäuser erzählen von Geschäftsleuten, die im Parterre einen Laden bewirtschafteten, im ersten Stock, der als einziger einen Balkon aufweist, mit der eigenen Familie wohnten, im zweiten Verwandte unterbrachten, im dritten einen angestellten Verkäufer und im obersten Stock unter dem Dach zwei Hausmädchen. Da fällt auf, das so ein Ladengeschäft der letzten Kaiserzeit alle oder fast alle Bewohner dieser fünf Wohnungen und den Hausbau finanziert haben muss, während heute die Einzelpersonen arbeiten gehen, Kleinfamilien oft zwei Personen in den Dienst aushäusiger Arbeitsverhältnisse stellen und Kaufleute mit Einzelhandelsläden großen finanziellen Problemen gegenüberstehen. In so einem Haus kommt nie das Gefühl auf, dass der obere Nachbar einem auf dem Kopf herumläuft, weil die Decken recht hoch sind, d.h. die Mieter besitzen mehr Volumen, mehr Atemluft als in modernen Wohngebäuden, was allerdings die Heizkosten hochtreibt. Die Baustoffe sind weitgehend biologisch, weil es keine anderen gab. Eine Waschküche ist auch noch zu sehen, wird aber nicht mehr zur Handwäsche benutzt. Die engen Höfe eignen sich nicht gerade bestens für Kinderspiele.

Geeigneter für Familien zeigen sich kommunale oder Genossenschaftsbauten aus der Zeit zwischen den zwei Weltkriegen. Es ist ein perverser Zug der Sozialgeschichte, dass eine familienfreundliche Baupolitik gemacht wurde, um die Leute anzuregen, Kinder zu bekommen, weil Soldaten gebraucht wurden. Diese bescheiden angelegten Mietgebäude wurden im Karrée angelegt, in dessen Mitte sich ein kleiner Park befindet, mit Sandkasten, Schaukel, Sitzbänken und Wäschestangen, wo die Kinder in einer geschützten Sphäre spielen konnten, währen die Hausfrauen Wäsche aufhängten, strickten oder sich unterhielten. Mietshäuser der Nachkriegszeit weisen diese Vorteile nicht auf, da wurde schon am Baugrund gespart.

Die allerneuesten Gebäude mit der für Atemorgane und Haut unangenehmen Kalkatmosphäre des Betons sind häufig für Singlehaushalte konstruiert. Die Appartments bestehen aus einem Zimmer, Dunkelbad und Miniküche. Aber sie besitzen eine Tiefgarage. Pflanzen und Bäume sind eher selten in der Wohnumgebung zu finden. Manchmal ziehen Alleinerziehende aus Mangel an anderen Angeboten in solche Wohnungen ein, um nach einer geeigneteren Bleibe weiterzusuchen. Im bezahlbaren Bereich besteht eklatanter Wohnraummangel und die Baugesellschaften, die sich zu Monopolbetrieben entwickeln, zeigen oft wenig Verständnis für die Bedürfnisse von Familien, Alten und Sozialfällen.

Am fantasievollsten und individuellsten fallen die modernen Einfamilienhäuser in den Speckgürteln um die Großstädte aus. Astronomisch erscheinen die Kaufsummen für die durchschnittliche Bevölkerung, selbst wenn es sich um ein Reihenhaus der Sechziger handelt. Die Schere zwischen den Sozialschichten hat ihr trennendes Werk verrichtet.
Könige, Fürsten und Kaiser bewohnten früher Burgen und Schlösser, Superreiche bauen auch heute wieder Paläste.


Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (25.08.22, 12:23)
Es muß kein Schloß (eine Nummer kleiner: kein Herrenhaus) sein, obwohl man da so schön eine Bibliothek unterbringen kann, an deren Aufbau mehrere Generationen beteiligt sind.
Aber schon Virginia Woolf hat gefordert, daß jedem Menschen (mindestens) ein Raum zustehen sollte ("A Room for One's Own"). Den kann er nach seinem Geschmack gestalten, dorthin kann er sich zurückziehen. Dem stimme ich von Herzen zu.

P.S.: Eine Schere, die zuschlägt - dieses Bild solltest Du m.E. überdenken.

Kommentar geändert am 25.08.2022 um 12:24 Uhr

 Regina meinte dazu am 25.08.22 um 12:28:
Gemeint ist die Schere zwischen Arm und Reich.

 Graeculus antwortete darauf am 25.08.22 um 12:40:
Ich weiß schon, aber eine Schere schlägt nicht zu, sie schneidet, sie trennt.

Antwort geändert am 25.08.2022 um 12:40 Uhr

 Regina schrieb daraufhin am 25.08.22 um 12:49:
Gilt das auch für den übertragenen Sinn?

 Graeculus äußerte darauf am 25.08.22 um 12:59:
Es geht natürlich hier um einen metaphorischen Sinn, aber der sollte sich von dem ursprünglichen herleiten. Etwa: "Die Wohlstands-Schere hat die sozialen Schichten getrennt." Oder: "... hat die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößert." Andernfalls handelt es sich um eine schiefe Metapher.

Beispiele:
- Das schlägt dem Faß den Boden aus.
- Das setzt dem Ganzen die Krone auf.
- Das ist ein Schlag ins Gesicht.
Hieraus kann man die absurd schiefe Metapher machen: "Das schlägt dem Faß die Krone ins Gesicht."

 Regina ergänzte dazu am 25.08.22 um 14:46:
OK.

 harzgebirgler (28.08.22, 17:53)
so zu "wohnen" wie der kellner hier
mutet man kaum zu einem haustier:
https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/paris-550-euro-miete-fuer-4-7-quadratmeter-stadt-geht-gegen-vermieterin-vor-a-d0a3264b-ea72-45e8-96e9-2294939dba5d
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram