Dorfleben hinterm Mond - oder schon dernier cri

Bericht zum Thema Fortschritt

von  eiskimo

Ein 450-Seelen-Dorf in Burgund, versteckt in den abgelegenen Bergen des Morvan, kann eigentlich nicht anders als hinterm Mond liegen, Lichtjahre entfernt von allem Fortschritt, getrennt von glamour, lifestyle und fashion.

Nicht so Bonnard, dieses Nest, in das ich mich im Sommer so gerne flüchte. Natürlich ist dort alles etwas kleiner, läuft alles etwas langsamer ab. Tatsächlich läuten da auch noch die Kirchenglocken stets um 8, um 12 und um 19 Uhr. Aber den Anschluss an die hippen Errungenschaften der Ära Macron, den haben wir hier allemal.

So ist in Bonnard schon seit über einem Jahr die E-Mobilität angekommen: Zwei zukunfstweisende Ladesäulen - „bornes electriques“ genannt - springen neben der Salle des Fêtes förmlich ins Auge, und tatsächlich gibt es mittlerweile drei, vier Avantgardisten mit E-Autos.

Was auch ins Auge springt: Das Bürgermeisteramt ist neuerdings mit einer modernen 2x3m großen Leuchttafel bestückt. Die postet in Endlosschleife alle Infos, die für die Bürger und Touristen wichtig sein könnten. Zum Beispiel den nächsten Blutspendetermin, die Einladung zur Waldführung mit dem Förster, dass aus Gründen der Energieeinsparung ab 22 Uhr die Straßenbeleuchtung entfallen wird oder wegen der Trockenheit eine Bewässerung der Gärten nur vor neun und nach 20 Uhr erfolgen darf...

Wenn ich sagte Touristen: Bonnard wirbt längst mit kostenlosen Stellplätzen für Wohnmobile, natürlich in zentraler Lage, mit „Vidange“-Becken, dazu ein sehr modernes „WC public“ und nicht weit davon entfernt dem Geldautomaten. Erwähnt wird gerne auch die Tatsache, dass man im Ort alle Geldleistungen per Karte erledigen kann – mais bien sûr, und das gilt nicht nur für die „Garage Gauthier“ mit den beiden Zapfsäulen für Essence und Gasoil, sondern auch für die Boulangerie, zur Not für das eine Baguette morgens im Wert von 1,05 Euro.

Ich meine: Das ist doch schon Service vom Feinsten, und wenn man in Bonnard „Netz“ braucht: Man kann sich im Ortskern kostenlos ins Internet einloggen. Welche deutschen Städte, die sich up to date wähnen, können diese Dinge für alle ihre Bewohner in der Form schon bereitstellen?

Und noch ein Bereich, wo viele deutsche Städte „alt aussehen“: Bei der Versorgung der Kinder.

In Bonnard ist es kein Problem, die Kleinen in Kindergarten, Grundschule, für die Kantine oder den Schulbus anzuzmelden – das Dorf ist geradezu erpicht auf Kinder. Muss ich erwähnen, dass es eine gut bestückte öffentliche Bibliothek gibt und sogar ein kleines Kino?

Auch die Alten hat man jetzt als Zielgruppe für kommunale Service-Qualität neu ins Auge gefasst. Vielleicht ist es auch nur das Gewinnstreben einiger privater Investoren, die den Markt der „Seniorenbetreuung“ für sich entdeckt haben. Jedenfalls bekommt Bonnard gerade eine kleine Wohnanlage für betreutes Wohnen errichtet mit 16 Appartements der Firma „Age heureux“ , die überall in der französischen Provinz derartige Häuser schlüsselfertig auf dier Wiese stellt.

Will da noch einer sagen, dass Bonnard nicht ganz vorn mitspielt in der demographischen Feinausrichtung auf das veränderte Sozialgefüge? Denn auch in Bonnard sind junge Familien mit der Versorgung ihrer Eltern oder Großeltern oft überfordert. Die heile Welt der Großfamilie ist nur noch in Ausnahmefällen anzutreffen.

Selbst die Baustelle der neuen Appartements verrät munterste Weltoffenheit: Die Handwerker, die dort seit einigen Monaten tätig sind, sprechen rumänisch, polnisch, bulgarisch und manchmal auch französisch. Man erlebt also Lohnkosten-Outsourcing nicht anders als auf Großbaustellen Berlins oder Brüssels, und ich bin mir sicher: Auch Monsieur le Maire als Bauherr hat hier ebensowenig Durchblick wie die städtischen Beamten in Deutschland.

Wo Bonnard allerdings den neuen Trends deutlich hinterherhinkt, das ist beim Umweltschutz. Wenn der Fußballverein am Sonntagmorgen die Gegner aus dem 4 Kilometer entfernten Aubois zum Derby empfängt, stehen am Sportplatz mindestens so viele Autos geparkt wie Akteure auf dem Platz bzw. Zuschauer ums Feld herum versammelt sind. Ich habe knapp 40 PkW gezählt und zwei Mopeds. Fahrräder: Null.

Das Fahrrad als alltägliches Fortbewegungsmittel gibt es nicht. Sonntags im leuchtenden Maillot Jaune auf dem Rennrad eine Ausfahrt machen, da sieht man schon einige, allerdings meist Ältere. Ansonsten wird Auto gefahren, auch für kürzeste Wege. Pickups sind voll im Trend und Quads, die gerne auch laut daherkommen dürfen.

Und ein anderes Defizit beim „environnement“: Die Mülltrennung. Zwar gibt es für Papier, Glas, Plastik und Restmüll sehr gut erreichbare Container, aber da just daneben auch große Tonnen für sperrige Abfälle bereitstehen, landet der meiste Müll natürlich dort drin, völlig unsortiert.

Gerne wird auch Plastikmüll einfach verbrannt; und im Herbst wabern die Qualmwolken über Bonnard, weil dann diskret die Gartenabfälle verkokelt werden.

Das Laissez-Faire bei dieser Art Gifte steht dann in Kontrast zur großen Bio-Gläubigkeit beim Essen. Der kleine Dorf-Supermarkt oder das „Restaurant De la Poste“ - Bio ist dort in vielfältigster Form angesagt. Selbst eine Brauerei für Biobier ist jetzt im Aufbau, und der Schweinezüchter, der vor drei Jahren mit „freilaufenden Gascognern“ angefangen hat und „nature pure“ verspricht, dem reisst man die „sauberen“ Produkte förmlich aus der Hand.

Das Bio-Obst im eigenen Garten freilich ist bei den wenigsten begehrt.Überall sehe ich Kirschen, Pflaumen, Birnen oder sogar Pfirsische an den Bäumen vergammeln. Ich vermute als Grund Bequemlichkeit. Aber vielleicht hat das Marmelade-Kochen und Obst-Einmachen auch noch das Arme-Leute-Image von früher?

Widersprüche also, die dem kritischen Blick des Ausländers rasch auffallen. Aber sind derartige Ungereimtheiten nicht überall nachzuweisen, Widersprüche zwischen Erkenntnis und Umsetzung, zwischen Anspruch und Wirklichkeit?

In einem Dorf wie Bonnard zeigen sie sich nur deutlicher, man hat alles dicht vor sich, wie unter einer Lupe.

Das Dorf als Mikrokosmos. Ich schaue mir das nach wie vor sehr gerne an, wie wir hier die Welt einholen oder die Welt uns.



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Kommentare zu diesem Text


 lugarex (06.09.22, 06:31)
Es scheint, dass in diesem Paradise auf Erde gesunde Mischung zischen "Modediktat" und Vernunft herrscht.
Salut Luga

 eiskimo meinte dazu am 06.09.22 um 09:39:
Pragmatismus und Savoir Vivre, könnte man sagen. Es ist auch Gleichgültigkeit im Spiel.....
LG
Eiskimo

 Regina (06.09.22, 06:40)
"Was auch ins Auge springt: Das Bürgermeisteramt ist neuerdings mit einer modernen 2x3m großen Leuchttafel bestückt. "
Bildschirm, wohin man blickt. In D sind sie in jeder U-Bahnstation, an jeder Bushaltestelle, nicht nur zur Information, sondern auch für Reklamezwecke vorhanden. Energie sparen durch Abschalten wäre das Richtige.

 eiskimo antwortete darauf am 06.09.22 um 09:31:
Die moderne Servicegesellschaft: Man streut alles auf Verdacht, es könnte damit ja ein Bedürfnis abgedeckt werden. So leuchten halt die Tafeln, liegen an jeder Ecke ein paar E-Scooter, piepsen die Smartphones....
Statt zu sparen, dann doch lieber ein paar AKWS weiterlaufen lassen.
Meine Grüße fressen leider auch Strom.
Eiskimo

 AchterZwerg (06.09.22, 07:34)
Da sieht man wieder mal: Wie im Kleinen, so im Großen.
Der "Fortschritt" ist immer und überall. 8-)

 eiskimo schrieb daraufhin am 06.09.22 um 09:34:
Ist das jetzt auch Fortschritt: Die Freiwillige Dorffeuerwehr feiert ihr erstes weibliches Mitglied, und rauchen tut sie auch.
Fragenden Grüße und immer wachsam
Eiskimo

 Dieter_Rotmund (06.09.22, 15:35)
glamour, lifestyle und fashion -> Du benutzt diese Begriffe als Fremdwörter, ergo Substantive, also musst du sie auch groß schreiben!
Außerdem:
PkW -> PKW

 Graeculus (06.09.22, 22:34)
Eine öffentliche Bibliothek in einem 450-Seelen-Dorf? Hut ab! Ist das in Frankreich Standard oder eine spezielle Initiative dieses Dorfes?

 eiskimo äußerte darauf am 07.09.22 um 08:24:
Standard weiß ich nicht, aber in anderen Dörfern der Umgebung gibt es auch Bibliotheken. 
Insgesamt ist in Frankreich die Schule viel wichtiger, auch als Ort für Integration und die "valeurs republicaines".
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