1.2013 – 1.2014

Short Story zum Thema Einsamkeit

von  Terminator

Es war kühl um mich. Nur die dritte Staffel der Serie Spartacus erwärmte mir das Herz. Ich ging nicht auf die 30 zu, sie ging auf mich zu. So alt wollte ich nämlich niemals werden.


Ich war so einsam, dass ich Whisky trank. Es könnte locker ein Drittel des durchschnittlichen deutschen Alkoholverbrauchs sein, sogar etwas mehr. In meinen alkoholischsten Zeiten brachte ich es auf etwa 4 Liter aufs Jahr gerechnet. Viel zu wenig, um oft genug betrunken zu sein.


Ich war so einsam, dass ich oft Whisky kaufen ging, weil die Whiskyhändler freundlich waren, und sich auf meinen Besuch freuten. Damals legte ich mir nach und nach eine kleine Sammlung an, weil ich viel mehr kaufte, als ich trinken konnte.


Ich war so einsam, dass ich mir in Beratungsgesprächen viel Whiskywissen angeeignet habe. In einem großen (und großartigen) Whiskygeschäft, in dem es möglich war, eine der bis zu 400 Sorten zu verkosten, war ich ziemlich oft. Mit einem Nosingglas in der Hand und steigendem Alkoholpegel fühlte ich mich für kurze Zeit weniger einsam als sonst.


Ich war so einsam wie ich vorher immer war, aber vorher fühlte ich mich nicht einsam. Ich lebte seit Ende 2009 wie ein Eremit, ging oft tagelang nicht aus der Wohnung im Studentenwohnheim, und fühlte mich gut. Nur der Winter 2012/13 war hart. Dann wurde aus der schmerzvollen Einsamkeit wieder genussvolles Alleinsein.



Der heiße Masterarbeitssommer. War wirklich unangenehm. Die intensivste Zeit des Schreibens fiel in die Hitzwellen. Oft schrieb ich nachts. Seit Ende Juli 2013 bin ich Stammgast beim Wetterguru Kai Zorn. Kaum gibt man heutigentags "kai" auf Youtube ein, schon vervollständigt es sich zu "Kai Zorn Wetter". Ich greife zu Hitzezeiten oft auf seinen Kanal zurück, er ist wie ein Prophet, von dem ich frohe Botschaften erwarte. Doch die werden seltener. Der August 2022 war der wärmste in Deutschland seit 1807. Ob Hegel die Phänomenologie des Geistes auch in schwüler Hitze schrieb? Vermutlich hatte er es kühler. Die Arbeitsbedingungen haben sich wiederum nicht auf die Qualität meiner Arbeit ausgewirkt, sie war sehr gut. Lange hatte ich nicht zuletzt wegen Al Gores alarmistischer Agenda Zweifel an der Erderwärmung, doch seit 2015 sehe ich ein, dass sie nunmal halt Fakt ist. Ob sie eine vorübergehende Erscheinung oder Teil eines globalen Klimawandels ist, werden wir leider auch erst im Nachhinein sehen, wenn es, natürlich, zu spät ist, weil dann gewisse Kipppunkte wie das Auftauen der Permafrostböden und das Verschwinden der arktischen Eisbedeckung erreicht sein werden.


Aber: Master, und was dann? Dozent wollte ich nicht werden, nicht gern jedenfalls, ehestenfalls als Notlösung und vorübergehend. Ich habe nicht ins Blaue hinein studiert, ohne eine berufliche Zukunft vor Augen zu haben. Ich hatte gar keine Zukunft vor Augen: der Tod war meine einzig denkbare Zukunft. Nun 30 geworden, erschien mir das Leben, insbesondere das Am-Leben-Bleiben, noch absurder als ohnehin. Die besten Jahre, die Teenagerjahre, waren lange vorbei, und sie waren eine Katastrophe. Ich kann mit anderen weiblichen Archetypen als der Jungfrau nichts anfangen. Raus aus der Schule, einsam für immer. Welche Wege würde die Liebe gehen? Es gibt den Weg des Steppenwolfs, doch den kenne ich nicht, ich habe Hesses Roman (auch heute noch) nicht gelesen.


Ohne Liebe leben? Ohne Mädchen!? Ohne Miezen!!? Da bleibt zwar noch die Philosophie, aber ich kann kein Heidegger sein: ich kann nicht opportunistisch für ein System arbeiten, das meinen Werten widerstrebt. Ich könnte ein freizeitphilosophierender Sokrates sein, ein Aussteigerdiogenes, oder, mit Glück (etwa durch einen Gewinn im Lotto) ein müßiggängerischer Epikur. Die Universität ist nicht der Ort, an dem ich meine berufliche Zukunft sehe, schon während des Verfassens der Masterarbeit nicht. Einige der Professoren über 60 waren anständige Leute, von dieser Altersgruppe habe ich am meisten gelernt. Professoren zwischen Ende 40 und 60 waren schon nicht mehr cool. Viele Nichtfischnichtfleischler, Philosophiebürokraten. Doch besonders die jüngeren Dozenten, Mitte 40 und jünger, waren oft traurige Figuren: prätentiös, überheblich, selbstgerecht, dabei kannten sie ihr Fach nur oberflächlich und lehrten wie schlechte Schullehrer. Menschlich oft sehr unangenehm, viele Gamma-Männchen halt, bestenfalls inkompetente Langweiler, ekelhaftestenfalls abstoßende narzisstische Lümmel.



Masterarbeit: das erste Gutachten ist da. Eine 1. 1 im Bachelor, 1 im Master. Und dabei ein 2,5-Schnitt beim Abitur. Wie ein Sprinter, der einen 40-Kilo-Kartoffelsack auf den Schultern hat. Das war meine Schulzeit. Im Studium war ich eher wie der Gewichtheber, der zusätzliche 100 Kilo heben musste, und übertraf den Rekord dennoch um 50 Kilo. 90% meiner Studienleistung war dabei gar nicht in die Note eingeflossen: ich hatte für mich selbst Philosophie studiert.


Der Winter 2013/14 war dann eine komische Zeit. Ellen Page kam heraus als lesbisch, was in meinem persönlichen und völlig unpolitischen Kontext ein Grund zur Freude war. Und dann erledigte sich auch der Kontext. Ich verschwndete meine Zeit mit Schnulzetten wie Flamingo Road und hatte Bock, Bock zu haben, etwas zu tun. Ich erhöhte den Leitzins meiner Leistungserwartung und leistete, wo Leistung möglich war. Ein fünfjähriges Anthropologiestudium in fünf Monaten, 10 Jahre Leben pro Woche, das Leben nicht an den einzelnen Phänomenen, sondern an den Eiern des Quellcodes gepackt.


Mit 30 war ich dennoch ein ineffizienter fauler Sack, und fühlte mich nicht einmal 1000 Jahre alt. Mit 39 bin ich locker 10000. Und doch verschwende ich zu viel Zeit, mache zu wenig, und doch bin ich bei den wichtigsten Dingen so effizient, dass ich nach Monaten Ziele erreiche, die ich mir für die nächsten Jahre gesetzt habe. Nur in der Außenwelt ist ein solcher Entwicklungsfortschritt nicht möglich. Es gibt zu viele von Mediokritäten für Mediokritäten gebaute Strukturen, alles bremst mich aus, ich fühle mich wie im Moor mit einer Zwangsjacke und mehreren Gewichten am Fuß.


Ich könnte ein erfolgreicher Schriftsteller sein, Regisseur, Wissenschaftler, Politiker, Prophet, Terroristenführer, Erotomane, Entertainer (heute heißt es Youtuber), aber nicht alles davon. Aber ich will mich nicht auf eine Sache beschränken! Den betörenden Glanz der Dummheit, Esther Vilars Erfolgsformel, sucht man bei mir vergeblich. Mein Leben ist so intensiv, dass es nach Stillstand aussieht, so dicht, dass es leer wirkt.



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