2015. Emmanuel Todd: Das Schicksal der Immigranten

Rezension zum Thema Hass

von  Terminator

Es gab viele Schwarze in Mexiko. Afrikaner. Wo sind sie? Assimiliert. Die Mexikanier und die Afromexikaner haben so querbeet untereinander geheiratet, dass es keine schwarze Minderheit in Mexiko mehr gibt: sie wurde in der mexikanischen Bevölkerung aufgelöst. Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, würde Erdogan sagen. Ein gutes Beispiel für gelungene Integration, und zwar seitens der Aufnahmegesellschaft, sagt Emmanuel Todd.


Die Befreiung der Sklaven und 100 Jahre später die Bürgerrechtsbewegung vermochten nicht, in den USA dasselbe Wunder zu vollbringen: der Schwarze blieb der Mehrheitsgesellschaft fremd. Je weniger rechtliche Diskriminierung es noch gab, umso mehr griffen die Weißen zur privaten Ausgrenzung. Die Segregation wurde von der politischen auf die anthropologische Ebene gehoben. Da die Afroamerikaner die Minderheit sind, ist ihre Community psychosozial zerfallen und nicht die der Weißen. Sie sind gesetzlich gleichgestellt, aber für immer fremd im eigenen Land.


Der Macho-Türke in Deutschland, der seine Schwester vor Sex mit den Kartoffeln schützt, und sie ehrenmordet, wenn sie diesen hat, reagiert nur auf den Umstand, dass nur sehr wenige deutsche Männer eine türkische Frau wollen. Die deutsche Herrenanthropologie sagt nunmal, dass die Ausländer Menschen zweiter Klasse sind. Und so überkompensiert der beschützende Bruder, indem er die verzweifelte Schwester, die kein Mann aus der Mehrheitsgesellschaft will, selbst abschirmt.


Überkompensieren tut auch der Jude, der sich in der ersten und zweiten Generation, so gut wie unabhängig vom Charakter des Aufnahmelandes, absichtlich nicht integriert, denn er will nicht in die Unterschicht, sondern mindestens in die Mittelschicht. Da bin ich voll der Jude: solange ich von der deutschen Mittelschicht nicht als gleichwertig behandelt werde, sehe ich mich nicht als Deutscher. Anders die Portugiesen in Frankreich: sie kamen nach dem Zweiten Weltkrieg ins Land und integrierten sich schnell und harmonisch, weil in die Unterschicht.


Todds großes Werk von 1994 ist ein Meisterwerk der soziologischen Literatur. Der Leser erfährt Unerwartetes oder nur Unausgesprochenes über die Gesellschaft, in der er lebt, und vielleicht auch einiges über sich selbst: warum integriere ich mich nur beruflich und kulturell, aber nicht psychosozial? Warum will ich als Immigrant im Aufnahmeland keine Familie gründen? Was ist Diskriminierung und was nur eine Projektion des persönlichen Scheiterns auf soziale Umstände?



Anmerkung von Terminator:

Buch des Jahres 2015

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