Jeden Morgen schuf er (sich) den Himmel neu (Romanauszug)

Tagebuch zum Thema Abhängigkeit

von  alter79

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Man muss vorher ordentlich durchpusten, Jimmi, weißt du ..., dann schmilzt die Nacht.

Der Mann, man nennt ihn Jimmi, der weiß, es schmilzt nichts einfach so weg. Nicht hier, nicht in einem drin, nicht im Knast. Er weiß, die kalte Nacht, das Eis des Tages kommen daher, weil sich keiner wirklich um den anderen kümmert. Und Schulze pustet sowieso nicht durch. Schulze hat offensichtlich ein Darmproblem. Schulze hockt jeden Morgen in dem kleinen Wäldchen nahe der Anstalt und löst das Problem. Weht Wind, stieben weiße Tempotücher mit brauner Einfärbung, zeigen das Wäldchen wie rostig verschneit. Und egal ob Wind oder nicht, wenn Jimmi vorbeigeht, hört er Schulze in diesem beschissenen Wäldchen stöhnen. Egal: Jimmi grüßt Schulze. Ruft: Guten Morgen, Werner!

Hört: Morjen, Jimmi!

Jimmi visiert wenige Meter weiter eine Buche an. Er mag Buchen. Warum auch nicht. Die hier mag er besonders. Er trinkt da - und wieder in einem Zug - den dritten Flachmann leer. Er kann das ohne Angst tun, denn gegenüber der Anstalt hat ein Geschäft offen. In Alis Corner deckt Jimmi sich mit einer Flasche Korn zu 6,88 DM ein. Nimmt zwei Cola. Bezahlt mit einem Zehnmarkschein. Immer. Und erhält von Ali eine Mark retour.

Wenn er aus dem Laden tritt, zieht er die Packung Kaugummi aus der Hosentasche, nimmt einen davon, wickelt ihn aus, lässt das Einwickelpapier fallen und steckt den gepuderten Streifen in den Mund.

Jimmi kaut.

Zielgerichtet überquert er die Straße. Ob Autos kommen oder nicht. Geht er. Blickt dabei starr auf die Kirchturmspitze, die mitten aus dem Komplex der Strafanstalt ragt. Und: Jimmi betet.


Jimmi hat das Eingangstor zum Gefängnis erreicht. Seine Schritte werden kürzer. Kopfsteinpflaster. Er will nicht fallen, um nicht aufzufallen.

An der Pforte wünscht er hinter das Panzerglas Morjen. Egal, wer da sitzt.

Präsentiert die Schlüsselmarke. Ein Blech mit Berliner Bären. Erhaben.

Mit eingestanzter Nummer: 42. Jimmi erhält dafür Schlüssel. Vier Stück. Die wie Silber blitzen. Und manchmal ein Guten Morgen, Kollege. Der Gruß wie aus Metall. Um ... darauf- ist- auch- geschissen, zu nuscheln. Immer Gold. Er.

Eine Stahltür quietscht. Schiebt sich ruckweise zur Seite.

Gibt wie im Daumenkino den Anblick auf den inneren Zirkel frei.

Auf einen Hof. Rasenoval darin. Pflastersteinwege an den Seiten. Am Ende die Kirche.

Neben der Kirche und um den Hof herum Backsteinbauten.

Darin vergitterte Fenster. Dahinter Verwaltungsbüros. Pfarrer. Vollzugsdienstleiter. Klos. Sprechzellen der Rechtsanwälte. Umkleide der Beamten.


Ein Telefon läutet.

Jimmi ist nun drin und dran. Der Knast hat ihn. Es gibt kein Entkommen. Und er kann auch nicht, wenn er erst einmal hier ist.

Was für ein Loch, denkt er noch. Dann macht er dicht.

Er geht vorwärts, gleicht einem Blinden. Wirft blicklos den Kopf in den Nacken. Zieht die Schultern hoch. Spannt die Hinterbacken.

Reguliert Gedanken und Gefühle ab. Vergisst gewollt individuelle Schuld.


Diese Tat von vor zehn Jahren, die hinter der abgrenzenden Betonmauer zum Wald auf dem Anstaltsfriedhof begraben liegt. Vergessen. Darum geht es hier für alle. Vergessen - was sie taten, vergessen - wo sie sind. Reaktion. Gegenreaktion. Ein Staat, der Teile seiner Gesellschaft wegsperrt.

Gesellschaft, die den Staat aussperrt.

Jimmi, der Mann, die Schuld, - die rucken an.

Jimmi geht über den Hof.

Er bewegt sich Richtung Haus. Blind. Und er wird bis Feierabend blind bleiben.

Dem entgegen ist sein Schritt fest. Unsicherheiten gibt es keine. Es führen ihn Auftrag und Dienstordnung. Die Vollzugsordnung. Seine Uniform, - die es gilt anzuziehen. Es leiten ihn die Schlüssel. An den Schlüsseln in der Faust kann er sich anklammern. Am Gedanken an Korn. Durch Uniform mit Epauletten wird er kenntlich. Jeder weiß, wer er ist.

Äußerlich. Und durch den Blick blinder Augen in seine.

Die Garderobe. Umsteigeplatz.

Erster Raum Unfreiheit von über tausend.

Dunkel, wie die anderen Lebensräume in Haft.


Jimmi trifft Bischoff.

Bischoff liegt an der Erde, vor seinem Spind, pumpt Liegestütze. Seine Füße, in weißen Socken, hat er auf einer 60 cm hohen Bank placiert.

Jimmi hat die 60 cm gemessen.

Bringt mehr, hat Bischoff Jimmi erklärt, wenn man die Füße 60 cm erhöht aufstellt.

Echt? Dann ist aber der Kopf teilweise unter dem Niveau der Füße.

Und der Arsch höchster Punkt, wenn man es richtig macht, meint Bischoff. Das passt doch gut hier her, oder?

Jetzt.

Guten Morgen, Jimmi!

Ist es ein guter?

Du nun wieder.

Wie viel hast du?

Siebenundachtzig!

Du bist spät dran.

Stimmt.

Bischoff pumpt: 99. 100. 101. 104. (...)

He. Du bescheißt!

Na wenn schon …


Jimmi zieht die Flasche Korn aus der Aktentasche.

Der Schraubverschluss quietscht.

Das ist Musik, was?

Für dich schon, Jimmi ... 113 ...

Jimmi trinkt.

Übrigens, Jimmi, du musst heute zum Alten!

Ich weiß, hatte einen Wisch im Schlüsselfach; aber woher weißt du?

Meine Frau hatte deine Akte.

Siehst du, sagt Jimmi, wenn man in der Firma verheiratet ist, gibt es keine Überraschungen mehr!

Wenn du meinst.

Trotzdem. Danke!

Gerne.

Jimmi trinkt nach.



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Kommentare zu diesem Text


 harzgebirgler (23.09.22, 13:42)
Es gilt auch: „Man muss noch Chaos in sich haben,
um einen tanzenden Stern gebären zu können.“
(Nietzsche, Also sprach Zarathustra)
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