Lehrstück in Demokratie, oder so geht es auch nicht

Kalendergeschichte zum Thema Denken und Handeln

von  eiskimo

Kniffeliger Fall in der Fahrradwerkstatt. Der Rahmen eines gerade neu aufgebauten, sehr teuren Gravel-Bikes zeigte dicht an der Schweißnaht zum Steuerrohr eine kleine, verdächtige Beschädigung.

Großer Schreck! War es nur ein oberflächlicher Kratzer im Lack oder hatte der Alu-Rahmen da einen wirklichen Riss?

Der Werkstatt-Chef war in Urlaub, das Gravel-Bike sollte am Nachmittag ausgeliefert werden, andere dringende Reparaturen und Kundenaufträge drängten.

Die vier „Schrauber“  in ihren Blaumännern schauten sich der Reihe nach das lädierte Rad an, strichen vorsichtig mit dem Finger über die kritische Lackstelle, runzelten die Stirn, blickten sich nachdenklich an, einer murmelte nur „Fuck!“

Tobi, der Dienstälteste in der Runde, stellte schon mal klar: „Schweißen könnten wir das nicht. Da flämmen wir den ganzen Lack weg…“

Moritz, Sportstudent und Aushilfsmechaniker, fand die fragliche Stelle gar nicht so schlimm, „und überhaupt, Leute: Wir müssen das ja gar nicht gesehen haben! Ist halt erst nach kurzem Gebrauch aufgetreten. “

„Wenn es überhaupt ein Riss wäre,“ pflichtete ihm Marie bei. Sie ist  die einzige Frau im Laden, eigentlich nur für den Verkauf angestellt , aber sie nutzt jede freie Minute, um in der Werkstatt ihren Mann zu stehen. „Das ist doch nur unsauber lackiert.“

„Nee, also ich geh da nicht mit! Im Zweifel geht die Sicherheit vor, Leute!“  Martin war immer so grundsätzlich.  Klar, dass er da Einspruch erhob. Er ist bei allem immer der langsamste, weil er penibel den Dingen auf den Grund geht. „Zu langsam,“ hat ihm sogar der Chef schon bedeutet. „Bei deinem Tempo kann ich die Bude bald zumachen.“

„Jedenfalls haben wir nicht die Zeit, den Rahmen zu tauschen oder ein ganz neues Rad aufzubauen,“  warf Tobi ein. „Und wir müssen hier zu Potte kommen.“

Kurzes Innehalten. Noch einmal ein Blick auf das Corpus delicti.

Dann Moritz: „Wir stimmen ab. Demokratisch.“

Marie: „Und geheim!“

Martin: „Toll. Dann war es am Ende keiner gewesen.“

Tobi: „Das ist halt das Schöne an Demokratie. Der Einzelne ist fein raus…“

Eilig holte er ein Blatt Papier, das er in vier gleiche Zettel zerteilte. Und schon schritt man zur Problemlösung.

 




Anmerkung von eiskimo:

Bei uns gibt es viele Risse, nicht nur im Lack

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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (26.09.22, 12:48)
Das ist ein Vorteil der Demokratie: daß keiner Verantwortung übernehmen muß, wo die Masse entscheidet.
Schön von Dir an einem kleinen Beispiel gezeigt.

 eiskimo meinte dazu am 26.09.22 um 15:35:
Bleibt die Frage, ob dabei die von der Sache her gebotene Entscheidung getroffen wird.  (vox populi, vox rindvieh)

 AngelWings (26.09.22, 14:36)
Wenn mal nach, denke! Das man alles in ein kleine Werkstatt, gemacht hat und jeder hat ein Fahrrad. Was das für ein arbeite das ware.

 AchterZwerg (26.09.22, 17:15)
Ein kluges Teilchen, Eiskimo. Ohne Wenn&Riss! :)
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