A Murder

Kurzprosa

von  KopfEB

Es geschah an einem grauen Herbstvormittag. Karl saß in seiner kleinen Einzimmerwohnung direkt unter dem Flachdach eines mehrstöckigen Leipziger Mietshauses und in dieser auf dem alten speckigen Ledersessel, den er bei seinem Auszug von Oma Lisa bekommen hatte. Er aß gelangweilt eine Schüssel aufgeweichter Cornflakes, während der Fernseher ihm zumindest zuverlässige wenn auch belanglose Gesellschaft leistete. Sein Blick fiel dabei wie so oft aus dem gigantischen Fenster, das die Stirnwand des Raumes beinahe vollständig einnahm, auf das Bahnhofsgelände und die wolkenverhangene Helligkeit dahinter. In seiner Wohnung war es – trotz dieser Glasfront – immer irgendwie dunkel und dort draußen Zwielicht.

Karl wunderte sich nicht zum ersten Mal über dieses Fenster, das hier fehl am Platz schien. Seine Ausmaße waren für ein luxuriöses Penthouse geschaffen, nicht für diesen 20 m² Betonkerker. Es hatte sich sein Dasein wohl auch anders vorgestellt.

Seufzend aß er einen weiteren Löffel der labbrigen Flakes und versuchte, sich in dem Fernsehgebrabbel zu verlieren, als er plötzlich, ganz leise im Hintergrund, ein fernes Rauschen zu vernehmen meinte, fast wie ein Säuseln. Das war neu. Er lauschte genauer hin, stellte den Fernseher ab, vielleicht zum ersten Mal seit Tagen, und lauschte erneut. Ja, das war neu und es wurde langsam aber sicher deutlicher. Er hatte so etwas noch nie gehört. Ein wenig, als ob die See ihm von der Küste aus hierher gefolgt wäre und auf ihrem langen Weg zu körperlosem Schaum, zu Schall geworden sei, der nun in steten Wellen schlussendlich bei ihm angekommen war.

Er versuchte die Quelle zu lokalisieren und konnte es nicht, das Geräusch erfüllte einfach seine Realität. Karl erhob sich und wanderte durch die Wohnung auf und ab, um zu überprüfen, logisch zu analysieren. Seine ersten Schritte führten ihn in das angrenzende Badezimmer, das gerade groß genug gewesen war, um neben der Dusche, dem WC und einem Heizboiler seine Waschmaschine unterzubringen. Sie hatten dafür allerdings die Frontverkleidung abmontieren müssen, sonst hätte sie nicht hineingepasst, und nun hatte Karl stets Angst vor einem Wasserschaden. Aber das war es nicht, hier wurde das Geräusch sogar eher wieder leiser und er konnte zu seiner Erleichterung auch kein Wasser über den Boden fließen sehen.

Also ging Karl in die winzige Küche, die gerade noch so viel Platz bot, sie zu betreten, um sich in ihr umzudrehen und damit zwischen Herdplatte, Spülbecken und Arbeitsfläche entscheiden zu müssen. Eigentlich war es eher eine Kochnische mit Tür, die er ausgehängt hatte, aber die kombinierte Spül-, Kühl- und Kocheinheit darin gehörte ihm, ebenfalls ein Geschenk seiner Großeltern, und so nannte er diesen Ort nichts desto trotz seine Küche, beinahe liebevoll. Hier war das Geräusch nicht unbedingt leiser, höchstens gedämpfter, aber hier war ebenfalls nicht sein Ursprung.

Vielleicht kommt es ja von draußen“, dachte er bei sich, ging in das Zimmer zurück und registrierte dabei, dass das Geräusch tatsächlich stetig lauter wurde. Nicht eigentlich lauter, sondern eher näher, war sein Eindruck. Ein Geräusch wie dieses kann gar nicht lauter werden, nur wahrhaftiger.

Er trat an die Fensterfront heran und gerade als er das ganz linke geöffnet hatte, flogen die ersten Körper direkt über seinen Kopf hinweg. Wie schwarze Fransen im grellgrauen Himmel bewegten sich die Saatkrähen auf federleichten Schwingen dem jenseitigen Horizont entgegen, zunächst nur ein paar, dann immer mehr, bis schließlich seine ganze Sicht von ihnen eingenommen war. Sie waren ihm so nah, und so zahlreich, es schien Karl, er müsse nur die Hand ausstrecken, um sich eine von ihnen zu greifen. Es waren endlos viele, ein Meer von Vögeln, ein Heer, ein ganzes Volk, die gesamte Spezies, alle Krähen, die jemals gelebt hatten und jemals leben werden. Es war ein nicht versiegender Strom, ein unendlicher Teppich der die Existenz ausfüllte und ein jedes dieser Geschöpfe nahm etwas von ihm mit auf seinen Weg. Stücke von ihm, wie Erdbrocken brachen sie von ihm ab.

Ein Stück seiner Hoffnung, ein Stück seiner Sorge. Ein Stück seiner Freude, ein Stück seines Kummers. Ein Stück seiner Einsamkeit, ein Stück seiner Angst, bis er nach Ewigkeiten vollkommen nackt mit offenem Mund und von ruhigem Nichts erfüllt dem Ende ihrer Schar hinterher blicken konnte.



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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (01.10.22, 07:34)
Krähen gelten in der Symbolsprache oft als Vorhut des Todes.
Treten sie in solchen Mengen auf wie in deiner Prosa, nahen sich entweder Hitchcock oder das Ende der Welt.
Ein Ende, dem man unter den beschriebenen Lebensumständen vielleicht sogar freudig entgegen geht. -
Vom Spannungsaufbau für mich sehr gelungen.

Schöne Grüße
der8.

 KopfEB meinte dazu am 01.10.22 um 13:11:
Vielen Dank für den Kommentar und die Empfehlung.

Und ja, ich bin mit der Wahl der Vogelart auch nur bedingt zufrieden, da sie eben solch eine tief in der Kulturgeschichte verwurzelte Symbolik hat und eine "vorurteilsfreie" Lektüre, die Suche nach dem Sinn erschwert. Aber da die Story größtenteils autobiographisch ist, hatte ich keine andere Wahl.
Ich betrachte es daher einfach durch die Brille nordischer Mythologie und erkläre den Krähenvogel zum Götterboten und das Ganze passt wieder etwas besser.
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