A. G. Dugin: Noomachie. England oder Britannien?

Essay zum Thema Zeitgeist

von  Terminator

Der Germane steht vor dem inneren Abgrund, der Kelte vor dem äußeren Abgrund. Die deutsche Mystik und der französische Existentialismus sind insofern Nihilismen, als dass in Germanien der heroische Nihilismus (mit Meister Eckhart, Kant, Nietzsche und Heidegger) und in Gallien der verzweifelte (resignativ-euphemistische) Nihilismus (mit den romantischen Lyrikern des 19. Jahrhunderts, und dann halt Sartre und Camus) die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens geben.


Der Engländer kennt das Nihilismusproblem nicht, das sich auf der Höhe der Klassischen Deutschen Philosophie für Kant und Fichte stellt. Der Engländer kennt stattdessen das positive Subjekt. Während der Kelte am Abgrund der Sinnlichkeit das weltliche Nichts fühlt, denkt der Germane, am Abgrund der Intuition stehend, das göttliche Nichts. Der Engländer steht genau in der Mitte zwischen den beiden Abgründen. Er sieht sie nicht und denkt, dass sie auch ihn nicht sehen.


Wer das bisher Gesagte nicht versteht, wem es intellektuell zu schwer ist, der soll nicht traurig sein, denn ein echtes Studium der Philosophie erfordert viele Jahre intensiven Nachdenkens und Selbstdenkens. Lesen und Nachfollzug reichen nicht aus. Wer aber meint, ich würde hier Unsinn verzapfen, wer dieses idiotische Urteil aufgrund seiner oberflächlichen Belesenheit fällen möchte, dem sei damit ins Stammbuch geschrieben: Jungchen bzw. Fräulein, du bist einfach zu dumm. Und weiter geht es mit unserem umstrittenen Philosophen.


Es gibt den germanischen und den französischen Logos, aber keinen englischen. Stattdessen gibt es die englische Zivilistaion. Von Karthago über Venedig über Antwerpen/Amsterdam zu London und New York zieht sich die historische Trajektorie der materialistischen Zivilisation des Meeres. Das britische Imperium war das bisher größte der Weltgeschichte. Das positive englische Subjekt hatte veritablen weltlichen Erfolg. Und es geht darum, sein Wesen, seinen Ursprung und seine Bedeutung für die Noologie zu ergründen.


Wenn England (Anti-)Rom war, sind die USA (Anti-)Byzanz. So wie die Römer und anders als die kontinentalen Germanen, waren die Engländer nur an der praktischen Metaphysik und Ethik interessiert. Im Mittelalter legten Wilhelm von Ockham und Roger Bacon den Grundstein für die typisch englische Philosophie. In der Neuzeit entwickelten Francis Bacon, Isaac Newton und John Locke das moderne Weltbild, das heute als die alternativlose wissenschaftliche Weltanschauung gilt, die angeblich metaphysikfrei und nichtspekulativ ist. Alles wird durch das Experiment erkannt. Selbst Kant war davon beeindruckt. Doch er stellte fest: um etwas durch das Experiment erkennen zu können, brauchen wir erstens die Gewissheit, dass sich die Natur immer gleich verhält (daran zweifelte der schottische Pyrrhon David Hume), und zweitens eine Beschaffenheit unseres eigenen Verstandes, mit welcher wir überhaupt etwas zuverlässig erkennen können.


Nicht nur Hume hatte Recht mit seiner Intuition, sondern der von fast allen Philosophiegeschichtsprofessoren missverstandene George Berkeley. Sein "Sein ist Wahrgenommenwerden" meint keinen subjektiven Idealismus, sondern die geistige Beschaffenheit der Realität. Nicht das zufällige menschliche Subjekt nimmt die Welt wahr, sondern der Mensch als geistiges Wesen, dem seine eigene Individualität und Subjektivität genauso Erscheinung ist wie ein Baum oder ein Fuchs. Doch wer sieht den Baum, wer beobachtet den Fuchs, wenn kein Mensch auf der Welt ist? Wie konnte es vor der Evolution der Primaten zum Homo Sapiens die Realität überhaupt geben? Die Antwort heißt in Berkeleys Sinne: Im Geist Gottes, des Zeugen allen Seins, war der menschliche Geist archetypisch vorhanden. Berkeley wählt also den inneren, göttlichen Abgrund der Intuition, und sein Idealismus ist kein Solipsismus, sondern steht in der platonischen Tradition.


Und was ist mit dem äußeren Abgrund des Nichts? Kein Problem, wir haben die Naturwissenschaft. Damit sie funktioniert, mathematisieren wir sie: es ist nur soviel Wahrheit in einer Wissenschaft, wie Mathematik drin ist. Da wird also durchaus mit dem richtigen Werkzeug der Erkenntnis erkannt. Aber nicht das geistige Prinzip, sondern die phänomenale, erscheinende Materie, wird zum Objekt der Erkenntnis. Folglich misst man das Flüchtige, wiegt das Verschwindende, berechnet das unendlich Kleine, und: es funktioniert! Die Logik des Geistes funktioniert in der empirischen Welt, weil das Sein dem Denken grundsätzlich entspricht. Denken und Sein sind nicht verschieden, nur unterschieden. Doch das Sein wird mit dem Phänomen, der Erscheinung, dem Nichts in seiner mannigfaltigen Gradualität ausgetauscht. Wir erkennen die Natur, indem wir sie vergewaltigen. Kant war begeistert: Machen wir uns doch zum "bestallten Richter", der die Natur zwingt, uns die Antworten auf die Fragen der Wissenschaft zu geben. Die Folge davon ist die rasante Entwicklung der Technik. Die Technik hilft uns, die Natur noch genauer zu erkennen, bis wir erkennen, dass wir sie eigentlich überhaupt nicht erkennen können.


Die Quantenphysik holte das Weltbild des Engländers schließlich ein. Was wir erkennen, ist gar nicht die Natur, das sind nur unsere mathematischen Annäherungen, und wir können auch, genau genommen, nichts Wahres erkennen, sondern nur Wahrscheinlichkeiten. Aus Gewissheit wird Statistik, aus Ja oder Nein Vielleicht mit einer Prozentangabe. Sagte ich doch, sagt Kant, dass wir die Dinge an sich gar nicht erkennen können, sondern nur das, was uns erscheint. Und das ist nun wirklich ein subjektiver Idealismus.


Das war England. Und Britannien? Nun, der Rote Drache hat keineswegs geschlafen. Wäre Britannien nur England, hätte es nie die einzigartige Dynamik und Dialektik des positiven Subjekts entwickeln können. Der englische Weiße Drache steht für das germanische, apophatische Element, für den inneren Abgrund, während der kataphatische Abgrund des Nichts in der keltischen Mythologie lauert, die das geistige Leben Britanniens seit jeher beherrscht. König Artus war nie weg.


Der Engländer ist ein Praktiker. Seine Denker kamen aus Schottland, seine Dichter aus Irland. Die Philosophie des Engländers ist der Utilitarismus, seine Ideologie der Liberalismus. Seine Romantik handelt von der Titanomachie. Im jüdisch-christlichen Kontext steht der englische Romantiker auf der Seite Luzifers, sympathisiert mit ihm: "Besser in der Hölle herrschen als im Himmel dienen". Doch Milton ist die Tragik Luzifers bewusst. Er feiert seine Renitenz nicht, er bemitleidet sie. Byron und Shelley tun das durchaus, für sie sind die Archetypen des Bösen positive Gestalten, die für Freiheit, Fortschritt und die Emanzipation des Individuums stehen. Keats hält sich wiederum an Shakespeare, der entweder klar und offen sagt, dass das Leben ein Traum ist, oder ironisiert, wenn er das nicht sagt.  


Der britische Konservatismus ist liberal: Burke wollte keinen zu schnellen Fortschritt, weil er Angst vor der Reaktion hatte. Zu schneller Fortschritt führt zu einer Konservativen Revolution. Die Hölle muss man langsam heiß machen. Die Erde darf sich nicht auf einen Schlag um 3 Grad erwärmen, sie muss es allmählich tun. Der Weg der Menschheit in die Katastrophe der titanischen Hybris ist mit freier Marktwirtschaft, Privateigentum, technologischem Fortschritt und den Menschenrechten gepflastert. Der Globus ist globales Britannien: der Nicht-Brite muss so werden, wie der Brite, oder auf die Herausforderungen der britischen Zivilisation reagieren. China und Japan hatten sich isoliert, doch wurden mit militärischer Gewalt für den Welthandel und die westlichen Werte geöffnet. Wer angegriffen wird, muss reagieren. Die buddhistischen, shintoistischen, hinduistischen, islamischen und all die anderen Kulturen wurden von den Briten und den Amerikanern nicht gefragt, ob sie an der Globalisierung teilnehmen wollten. Natürlich ist die britische Zivilisation nicht an allen Übeln der Moderne schuld, doch wer die globale Macht hat, trägt auch eine globale Verantwortung. Entweder wird die Anglowelt dieser Verantwortung gerecht, oder sie muss für eine multipolare Weltordnung Platz machen.


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