Auf´m Tisch

Kurzgeschichte zum Thema Sex/ Sexualität

von  rhebs

Ludger der Schneider aus Thüringen nähte manchmal um Mitte 1985 noch im Schneidersitz auf dem Tisch beim Heften der Stoffteile. Dreißig Stiche schaffte er in der Minute, wie sein alter Meistervater, von dem er sein Handwerk erlernt hatte. Obwohl schon seit ungefähr 1870 mehrere mechanische Nähmaschinen in der alten Werkstatt benutzt wurden, erhielt sich diese Tradition, die einen einfachen Grund hatte, den heute kaum noch jemand kennt. Selbst bei Wikipedia steht nur die Vermutung, "...damit die bearbeiteten Stoffteile nicht auf den Fußboden hängen und die bei der Arbeit abfallenden Stoffteile nicht in den Staub fallen..."  Ein Schneider brauchte seit Jahrhunderten für seine exakte Arbeit gutes Licht. Das beste Licht in der Schneiderwerkstatt war nicht auf einem Stuhl vor dem Tisch am Fenster, sondern auf dem Tisch. Der Meister saß immer links am Fenster, der Altgeselle rechts neben dem Fenster und der Junggeselle saß in der Mitte mit dem Rücken zur Werkstatt, damit er schneller aus der Werkstatt neue Teile und Knöpfe holen konnte. Ludger saß gerne auf dem Tisch, auch damit er seine Kunden schon sehen konnte, wenn sie sich auf der Straße dem Geschäft näherten. Gesellen hatte Ludger schon lange nicht mehr. Er, der Schneider Ende der Vierzig arbeitete alleine und manchmal, wenn es viel zu tun gab, half seine Frau die Gusti. Auguste war zur Kur und seine Stammkundin Anette näherte sich dem Fenster, von dem Ludger schon eine stumme Begrüßungsverbeugung auf den Gehweg sendete. Anette ging nach der neusten Mode gekleidet in einem vom Ludger genähten eleganten, taillierten, sandfarbenen leichten Sommermantel, passend zum strohblondem Haar von Anette.  Als sie die Werkstatt betrat, die von einem hohen Tresen geteilt war, lehnte sich Anette mit beiden Ellenbogen auf den Tresen, verschränkte die Hände unter dem Kinn und sagte zu Ludger " So könnt ich nicht den ganzen Tag sitzen, das ist ja viel zu unbequem, aber sie schau´n ja den lieben langen Tag nach den hübschen jungen Frauen auf der Straße hinterher!  Ludger grinste freundlich und meinte: "Das ist doch ganz leicht! Setzen sie sich doch mal auf den Tisch!" Anette zog da duftige Mäntelchen aus und begann flugs auf den Tisch zu klettern, von dem Meister Ludger inzwischen flink und behende gesprungen war. Das war nicht einfach. Der Tisch war hoch, Anette hatte einen engen kurzen blauen Rock an, der ihr ein wenig bei der Schneidersitzposition behinderlich war. Unter dem blauen Rock hatte sie halterlose blaue Strümpfe aus dem Westen an. Das Höschen hatte einen ähnlichen Spitzenbesatz. Sie saß nun mit dem Rücken zum Fenster. Zwischen der blauen Pracht leuchteten Anettes wohlgeformte Schenkel unter dem Rock dem Meister entgegen, die er schon mehrfach vermessen hatte. Er hatte ihr Alter und alle Maße  im Kopf. Fünfunddreißig, 92-63-89 auf einen Meter und vierundsiebzig Zentimeter.  Ludger bedeutete Anette die Wichtigkeit des Schneidersitzes. "Es entspannt bei Beibehaltung des Sitzes den Beckenboden, weitet den Querbeckendurchmesser und den Beckeneingang und ist in der Lage zur Korrektur der Neigung und Stellung des Beckens beizutragen. Beim Schneidersitz sollten sie auf einen aufrechten Rücken zur Entspannung der Hüftgelenke achten! Den Schneidersitz können sie auch bei einer Meditation einnehmen. Wenn man das alles richtig kann, ist der Lotussitz eine Steigerung dieser Sitzposition, mit der sie mit geschlossenen Augen leicht ins Nirwana gelangen können!  "Ins Nirwana - echt?" Ludger klickte auf den alten Plattenspieler unter dem Tisch, ohne zu versäumen nochmal unter den Rock zu schielen. Musik der Beefeaters waberte durch den Raum, Psychedelic Blues aus Dänemark von 1968. Anette schloss die Augen und Ludger fing an vorsichtig Anettes Knöchel zu massieren. Sie hielt die Augen geschlossen und Ludger massierte weiter in Richtung Anettes Knie. Sie wiegte sich im Rhythmus des Blues, schaukelte langsam seitlich hin und her. Als Ludger am Spitzenbesatz der Strümpfe anlangte, öffnete sie die Augen und sprang vom Tisch. "Mach die Vorhänge zu!", sagte sie gurrend und Ludger machte nicht nur die Vorhänge zu, sondern hing an die Werkstatttür das Schild "KOMME GLEICH WIEDER!".  Ein Schneider kann sehr schnell Knopfleisten auf und zu knöpfen. Seine eigene konnte Ludger noch schneller jetzt aufknöpfen. Er brauchte nicht hin zu sehen, er sah zu Anettes Beckeneingang, die schon wieder auf dem Tisch saß. Nicht im Schneidersitz, ihre Beine baumelten links und rechts an den Enden einer in der  Tischkante eingelassenen Elle. Sie entspannte ihre Hüftgelenke auch ohne Schneidersitz. Weitete den Querbeckendurchmesser und den Beckeneingang und schlang ihre Beine um Ludgers Hüften. "Sie.............. sind................. ja..............ein.............er..................
ma...................chen................sie...........das............mit..............je..............der"
keuchte sie und Ludger keuchte dabei ohne  Silben zu nennen.  Er sah rechts hoch zum Stoffschrank neben dem Fenster, wo oben ein altes Buch von 1914 lag. "Mann und Frau", Verlagsbuchhandlung Max Otto Groh, Dresden  und dachte dabei an ein Zitat aus der Seite 233 "Das Reiben des Gliedes in der Scheide erhöht das Glücksgefühl". Lange brauchte er nicht zu reiben. Das Glücksgefühl war zu groß und er dachte an das erste Wort seines Schildes draußen an der Türe "Komme!"  Macht nichts!", sagte Anette, als er das Schild wieder abhing. "Ich komme morgen wieder!" Anette kam fast jeden Tag, bis Ludgers Frau aus der Kur zurück war. Nach mehreren Wochen, in denen sich Anette nicht bei Ludger meldete, bekam Ludger einen Telefonanruf mit dem folgenschwerem Inhalt, das Anette schwanger von Ludger wäre und für einen Betrag von fünfundzwanzigtausend  DDR-Mark auf alle weiteren Ansprüche verzichten würde. Besonders seine Frau würde nie etwas von dem Geschehen auf dem Schneidertisch erfahren. Ludger zahlte. Monate gehen ins Land und Anette bleibt bei ihren Maßen. 92-63-89. Lediglich die Haarfarbe änderte sich ins Brünette. Einen Freund  erzählt er vom Buch "Mann und Frau", den Sünden auf dem Schneidertisch und dem schönen Geld, was er dafür gezahlt hat. Der Freund erzählt es einem Polizisten und der erzählt das dem Staatsanwalt. Danach gibt es ein Gerichtsverfahren und das Ereignis wird Inhalt einen Büttenrede. So erfährt es die ganze Stadt. Von dem Schneidertisch, dem Buch "Mann und Frau" aus der Verlagsbuchhandlung Max Otto Groh, Dresden und den fünfundzwanzigtausend Mark für kein Kind. Meister Ludger saß nie wieder auf dem Tisch am Fenster.


Anmerkung von rhebs:

Thüringer Dekameron Leseprobe
Meine Vorbild für diese Geschichtensammlung, sind Giovanni Boccacios Buch  "Il Decamerone" und Oskar Maria Grafs "Bayrisches Dekameron".
Vorbildlich spitzbübisch, boshaft, urwüchsig und frivol waren für mich Oskar Maria Grafs kraftstrotzende Geschichten, die 1927 erschienen sind. 

In dieser Zeit, den Fünfziger Jahren beginnen meine Geschichten aus Thüringen, wo diese Art Erzählungen noch ein wenig mager gesät sind. Am Kneipentisch in Thüringen, auf Familienfesten, von Kollegen und Freunden wurde mir so manches berichtet. Der Wahrheitsgehalt ist offen und alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder Ereignissen sind rein zufällig. Mir bekannte Ereignisse habe ich andere Namen, Zeiten und andere Orte zugeordnet. Manches ist deftiger, manches schaumgebremster beschrieben. Hundert für sich stehende Geschichten sind meine Erzählungen nicht. Es sind zwölf. Die Fülle der Ereignisse ist mit mehr als Hundert zu beziffern.

In der DDR gab es die Krankheit einer Parteidiktatur, die sich anmaßte, das Leben der Menschen in vollem Umfang nach ihrem Duktus zu bestimmen. So flüchtete man sich bewusst und unbewusst in private und gesellschaftliche Nischen. Das gelang oft, ging aber auch schief. Ging schief und klappte wie bei Bocaccio gegen den Klerus angeschrieben oder bei Oskar Maria Graf gegen Obrigkeit und Dorfgewaltige.


 cover DAS THÜRINGER DEKAMERON

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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (27.10.22, 17:26)
Da ist dir eine hocherotische Geschichte gelungen, die schon mit dem Titel Appetit macht.

LG
Ekki
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