Klassenfahrt - Tag 1

Tagebuch

von  Manzanita

Am Mittwoch, dem 27. April 2022 klingelt mein Wecker um 3:25 Uhr. Ich glaube, noch nie so früh aufgestanden zu sein. Ich ziehe mich an, Mama wacht auch auf, will aber doch nicht mitkommen zur Schule.


Um viertel vor vier gehe ich zur U-Bahn. Die Straßen sind menschenleer, nur eine Katze ist unterwegs. Angenehme Temperatur. Auch im U-Bahnhof ist nichts los. Ich fahre mit dem ersten Zug auf der Linie. Der Fahrer schaut Fernsehen; ich bin der einzige Fahrgast in allen drei Wagen. Keine anderen Schüler*innen unterwegs. Kommen wahrscheinlich alle mit dem Auto. Später, im Bus zwei weitere Fahrgäste. Ich bin sehr wach für das Wenige das ich geschlafen habe.


Auf dem Schulparkplatz stehen schon ein paar Autos mit Leuten drin. Schlafen die noch? Ich traue mich nicht, hinzugehen. Ich halte Ausschau nach einem Elektroauto, weil ich weiß, dass Lenas Eltern eines besitzen. Plötzlich kommen zwei, aber es ist nicht Lena. Ein paar Leute gehen auf mich zu und wir reden. Müde. Herr Herring, aus Gießen hergekommen, stellt sich zu uns. Wir sollen in die Kantine gehen, um halb fünf. Tun wir.


Mittlerweile sind deutlich mehr Leute da, auch Jonathan, Benjamin und Lena. Es fällt mir schwer, mich neben Jonathan oder Benjamin zu positionieren, weil ich sie in der Dunkelheit schlecht erkenne. Lena steht bei den Mädchen. Ich traue mich nicht, hinzugehen. Außerdem, denke ich, lasse ich Lena besser alleine denn, wenn sie möchte, stellt sie sich immer wieder selbst und ohne Aufforderung zu mir, wie Montag und Dienstag in den Mittagspausen auf dem Pausenhof.

Ich hoffe, Lenas Freundinnen und insbesondere Emma akzeptieren unsere Liebe. Emma beäugt mich öfters kritisch, aber gegenüber ihr habe ich den Hochstatus.


In der Kantine setzt sich Lena neben Jonathan und damit auch zu uns (als Gruppe) und mir gegenüber. Wir testen uns auf COVID-19. Alle negativ außer Linus. Er macht weitere drei Tests, am Ende steht es 2:1 für negativ plus einen ungültigen Test. Linus darf mitkommen.


Wir zeigen der völlig überforderten Organisatorin und Lehrerin gegen fünf vor fünf unseren Test und gehen wieder zum Parkplatz. Zeitgleich kommen die drei Busse. Frau Taube und Herr Herring, die die deutsche Sektion begleiten werden, wissen sogar, in welchen Bus wir müssen. Wir laden also das Gepäck ein. Dann suchen wir uns einen Platz.


Der Moment der Wahrheit oder zumindest der erste von ihnen nähert sich. Benjamin will sich neben Linus setzen, er hat ihn davon überzeugt. Jonathan soll sich auf die andere Seite auch neben ihn setzen. Nach diesem Plan könnte ich mich neben Jonathan setzen, weshalb ich nichts anmerke. Jonathan ist gegenüber Benjamin machtlos geworden.


Im Bus kommt es aber anders. Für Jonathan ist kein Platz mehr in Benjamins Reihe zu finden, so auch nicht für mich. Generell scheint der Bus zu klein zu sein. Wir fragen Herrn Herring und gehen in den Bus der Klassen E und F, dem Midibus. Dort sind noch sechs Plätze frei.


Sechs Leute bleiben dort, haben sich einen Platz ergattert. Unter Anderem Jonathan. Ich nicht. Gehe also zurück zu einem Lehrer in den Deutschen Bus. Dort ist wie ein Wunder doch noch genug Platz uns übrig geblieben.


Ich finde einen guten Platz, dazu noch billig (ich habe keinen Status abgeben müssen, um mich dort hinzusetzen), neben Mia. Benjamin ist eine Reihe vor mir gegenüber. Ich kann gut mit ihm reden, deutlich besser als Jonathan vom anderen Bus aus. Hoffentlich gehen beide trotzdem in das selbe Zimmer, sonst müsste ich mich ja für eines entscheiden!


Eine Reihe hinter mir auf auf der linken Seite (ich sitze auf der rechten) sitzt Lena, die mir vorschlägt, meinen Rucksack oben in die Gepäckablage zu verstauen. Aber da passt er nicht hin, demonstriere ich ihr.


Gegen halb sechs fahren wir los.


Ich bemerke, dass weder Frau Taube noch Herr Herring eine Maske aufhaben, obwohl ihr Tragen verpflichtend ist. Hatte Lena gerade nicht auf keine auf? Oder schon? Ich habe nicht darauf geachtet. Da sie hinter mir sitzt, sehe ich sie nicht. Ich beschließe, mich bei nächster Gelegenheit kurz umzudrehen.


Es dauert noch ein paar Minuten. Dann bestaune ich Lenas Gesicht. Ohne Maske. Niemand (außer Unai und der Busfahrer) hat eine Maske auf. Da Unai (der Busfahrer auch nicht) strategisch für mich nicht relevant ist, beschließe ich, auch die Maske abzunehmen. Wenn jemand von uns infiziert ist, dann werde ich mich bei drei Tagen Klassenfahrt sowieso anstecken.


Aber hatte Lena wirklich gerade keine Maske auf? Bin ich mir sicher? Hat sie bloß gegessen oder getrunken? Ich drehe mich noch mal um. Und noch mal hat sie keine auf. Ich setze meine ab. Ich gucke mich noch mal um: Lena sieht so anders, jünger (?) aus ohne Maske.


Weiter geht’s nach Italien. Am Friedhof Westhausen zeige ich Benjamin die abgesenkte Brücke, über die wir dann doch nicht fahren. Benjamin zeigt mir seinen Hochstatus; ich verliere meinen. Das war ein Fehler. Aber nicht groß genug, um langfristige Wirkungen mit sich zu ziehen. Trotzdem sollte er nicht wieder vorkommen.


Lena „liegt“ auf ihrem Sitz und hört Musik. Hat sich wohl neue, kabellose Kopfhörer zugelegt, denn im März hatte sie welche mit Kabel dabei. Was sie wohl hört? Meine größte Lücke in der Persönlichkeit ist das Fehlen einer Musikrichtung die ich gerne höre. Ist es schon zu spät, um sie zu füllen?


Wir fahren über die A5 nach Basel. Ich sitze halb eingeschlafen da. Wie alle Anderen auch. Benjamin macht Geo. Von hinten ertönt laute Musik, wir kontern. Fatima macht marokkanische an. Mia, neben mir, freut sich und schreit mir ständig ins Ohr. Der Busfahrer ist nett, hat aber keine Adresse; weiß nur, dass er zum Comer See fahren soll. Mal sehen. Schönste Ecke, sagt er, im Superlativ! Ich freue mich.


Von hinten kommen fliegende Würstchen. Moritz zeigt den LKW-Fahrer*innen (ist eine gute Frage, ob auch den Frauen…) den Po. Cool. Ob das ein Anzeichen für Freude ist? Frau Taube und Herr Herring freuen sich jedenfalls nicht. Die Mädchen auch nicht und kreischen.


Wir rasten bei Weil am Rhein. Noch keine Putzaktion. Ich gehe nicht aufs Klo; wir werden noch mal in Basel halten. Alle gehen in ein Geschäft und kaufen sich teure Sachen. Lena und ich bleiben draußen. Als ich mich gerade zu ihr stelle, kommen schon Benjamin, Jonathan und Linus (der Midibus ist auch schon da und rastet).


Wir setzen uns auf die Treppenstufen, reden aber nicht viel miteinander. Lena sagt, sie hat ihr Handy vergessen und hört durch ihre Bluetooth-Kopfhörer, die sie immer noch im Ohr stecken hat, deswegen nur abgehackt ihr Hörspiel. Trotzdem eine gute Leistung fürs Handy.


Ich esse ein Brötchen, mitgebracht. Dann fahren wir weiter runter in die Schweiz. Benjamin mischt Karten. Warum?, frage ich ihn. Er übt, will es besser können als Lena, weil sie ihn neulich kritisiert hat. Benjamin hält lange durch. Sehr gut. Würde ich nicht schaffen aber das braucht man, wenn man lange im Hochstatus stehen will. Das tut Benjamin allerdings trotzdem nicht.


Gut, denn die Zimmerverteilung geht los. Die Mädchen und die Jungen aus der A-Klasse haben genaue Vorstellungen. Sie hat Fatima auf ihrem Laptop aufgeschrieben. Warum Fatima? Egal. Mia ist nicht mit dem Vorschlag einverstanden und es wird fast zwei Stunden lang diskutiert, welches Zimmer das unpopulärste Mädchen der Sektion, Mia, aufnimmt.


Wir Jungen schaffen es innerhalb weniger Minuten mit Oliver. Er kommt in unser Zimmer. Unser? Benjamin, Jonathan und ich, wie ich Fatima mitteile. Damit wechsel ich die Strategie. Die alte hat ihren Job getan, es hat funktioniert!!


Im absoluten Hochstatus gegenüber Jonathan und Benjamin wechsel ich zu einer freieren Strategie mit mir im Vordergrund, um das beste von der Klassenfahrt an die schönste Ecke zu bekommen. Wie ich mich freue!


Ich fange an, mein Buch zur zweiten Republik Spaniens zu lesen. Bücher verschaffen einem einen verlässliche Hochstatus. Ich lese bis kurz vor Basel. Dort müssen wir über die Grenze und in die Schweiz rein.


Für diese erste Einreise benötigen wir kein Formular, dafür haben wir ein italienisches bekommen, auf Italienisch, und versuchen, es auszufüllen. Für die Schweiz braucht unser Bus allerdings eine Etikette. Eigentlich, sagt Frau Taube, hat die Schule schon die Rechnung dafür bekommen und bezahlt aber der Busfahrer weiß nicht, wo das Abzeichen denn ist. Kurzerhand bezahlt, glaube ich, Frau Taube ein neues.


Zwanzig Meter hinter dem Grenzübergang ist eine Raststätte. Wir halten dort. Ich hole meine Maske aus dem Rucksack und gehe aufs Klo. Lena zieht sich dafür auch eine Maske an, die Anderen nicht. Das Klo kostet einen Schweizer Franken oder einen Euro. Man kann es sich aussuchen! Ich nehme natürlich den Euro. Gut, wenn ich Profit machen möchte, denn fürs nächste Mal bekomme ich einen Gutschein zurück. Einen Schweizer Franken, also mehr, also ich gezahlt habe.


Allerdings kann man im Laden dafür nur Milchbrötchen kaufen, also lasse ich es und gehe zurück an die frische Luft. Dort reden wir wieder, Lena, Benjamin, Jonathan und ich, etwas mehr als in Weil. Ich weiß nicht, ob ich bereit bin, Lena zu küssen oder nicht. Sowieso, wenn schon, erst morgen. Aber ich rechne damit.


Wir fahren weiter durch Tunnel und schauen auf verdammt hohe Berge und spektakuläre Landschaften, wie Herr Herring kommentiert. Die Mädchen spielen Werwolf. Ich kenne alle Karten noch vom Jugendfilmcamp, also traue ich mich und spiele mit. Leider kann man im Bus schlecht still da sitzen und horchen, wenn hinter dir das Chaos herrscht. Deswegen klage ich niemanden an und stimme statt gegen Lena gegen Luisa ab, böse Werwölfin. Ein großer Fehler, denn so blamiere ich mich und Lena. Trotzdem gewinnen wir Dorfbewohner*innen.


Beim zweiten Spiel werde ich verliebt, allerdings nicht in Lena sondern in Luna, die ich noch nie gemocht habe. Auf den Weg in den Gotthardtunnel verschlingt die Lautstärke der (auch wenn schlechten) Musik die Gespräche im Bus.


Vor dem Tunnel ist Stau, nicht viel aber genug, damit der Busfahrer beschließt, über den Pass zu fahren. Zum Glück ist dieser gesperrt und wir wenden. Auch gut, denn durch diesen Umweg ersparen wir uns den Stau, der sowieso nur vor dem Tunnel ist.


In der Schweiz hat praktisch niemand mobile Daten; wenn Herr Herring und Frau Taube wüssten, dass Lena unendlich viele hat und allen einen Hotspot gibt, müssten sie nicht sechzig Euro Roaming bezahlen. Sie haben dem Busfahrer den Weg zu zeigen da er ja, wie gesagt, nicht die Adresse kennt.


Leider vertraut er trotzdem mehr seinem Gedächtnis als Herr Herrings Handy und verfährt sich. Wir fahren mit dem langen Bus durch ein Dorf und passen wirklich nur sehr knapp durch. Außerdem fahren wir einmal über Rot, werden aber nicht erwischt, und veranstalten ein Hupkonzert als wir die andere Ampel zu spät erkennen und quer auf der Kreuzung stehen bleiben. Frau Taube wird in direkter Konsequenz sauer auf den Busfahrer, schließlich hätte uns die Polizei anhalten können und soetwas wird in der Schweiz teuer.


Immerhin war der Weg durch die Stadt etwas schneller als über die Autobahn, denn am Ziel haben wir einen Vorsprung von etwa 15 Minuten. Formel 1, meint Herr Herring. Unser Ziel ist ein Parkplatz direkt am See. Von dort wird wie von der gesamten Küste aus genießen wir eine wunderschöne Aussicht, blaues Wasser, grüne Berge, sie erinnern Benjamin an Norwegen, gepaart mit einem warmen Klima und einer netten Atmosphäre.


Erstmal dürfen wir aussteigen und zu Mittag essen, denn es ist schon nach drei Uhr. Es werden Lunchpakete ausgeteilt. Benjamin meldet sich als Vegetarier an, obwohl er, glaube ich, keiner ist. Aber für solch unwichtige Dinge will ich keinen Status verlieren, deswegen frage ich nicht. Lena meldet sich nicht als Vegetarierin an. Sie sagt, sie isst grundsätzlich Fleisch, allerdings nur, wenn sie dessen Herkunft kennt und diese für gerecht hält. Sollte ich mir auch angewöhnen. Dadurch, dass niemand weiß, woher der Schinken kommt, isst Lena aber nicht.


Die Pause auf dem Parkplatz ist nicht besonders lang; bald schon geht es weiter. Diesmal sind auch die in den Midibus geflüchteten mit an Bord und wir sitzen zu dritt auf einer Bank. Es geht nicht zum Hostel sondern direkt zur ersten Aktivität.


Wir lernen live, wie Käse produziert wird und zwar nicht in einer Fabrik sondern handwerklich. Aber dafür müssen wir erst mal einen ganz schön steilen Berg hochfahren. Die serpentinenartige Straße macht die Fahrt zum Abenteuer. Bleiben wir stecken? Schaffen wir es? Natürlich schaffen wir das!


Schon ziemlich weit oben bleiben wir auf einem Parkplatz stehen, genießen nur kurz die Aussicht und laufen das letzte Stückchen hinauf. Endlich kann ich mir nach so einer langen Fahrt mal richtig die Füße austreten.


Der Bauernhof ist ziemlich groß. Wir gehen in einen Raum mit zwei langen Tischen und setzen uns. Eine junge Bäuerin erklärt uns, dass der Hof bereits in dritter Generation betrieben wird, genauer gesagt, ist sie die dritte. Sie stellt uns auch ihre Mutter und Großmutter vor (von den Männern keine Spur), mit letzterer Frau werden wir den Käse herstellen.


Dazu hat sie am Morgen die Kühe gemolken. Eine Kuh produziert übrigens pro Tag im Durchschnitt 52 Liter Milch. Wir benutzen zwei davon. Zu ihnen geben wir Molke und rühren um. Wieso wir? Weil die Großmutter sich für jeden einzelnen Handgriff sich eine*n Helfer*in holt.


Während des Umrühren dürfen wir eine Verkostung durchführen. Uns werden ein gereifter und ein ungereifter Käse präsentiert. Mir schmeckt der Frischkäse besser; Benjamin und Frau Taube verschlingen regelrecht den Älteren. Insgesamt eine sehr schöne und spannende Erfahrung, welche allerdings nur eine Stunde dauert, weshalb wir nicht viel schaffen.


Auf dem Rückweg, wir müssen diesmal die Serpentinenstraße entlang herunterfahren, haben wir einen Krankenwagen im Rücken, was die Fahrt, das Abenteuer, noch stressiger macht. Glücklicherweise kann der Krankenwagen in einer scharfen Kurve rechts überholen. Wir fahren nun zum Hostel.


Uns wird erklärt, dass wir in einer Art Filialgebäude des Hostels der C und D übernachten werden, allerdings zum Abendessen dorthin laufen müssen. Unser Hostel liegt etwas höher in den Bergen, weshalb der Fußweg mit den Koffern dorthin etwas anstrengend wird, hauptsächlich allerdings durch die Beschwerden der Anderen.


Diese enden nicht, weil das Hostel alles Andere als luxuriös ist. Wir, Jonathan, Benjamin, Oliver und ich, haben kein eigenes Bad, immerhin ein Waschbecken. Unser Schrank ist kaputt und ein Licht flackert. Aber kein Hals- und Beinbruch, ich habe jedenfalls überlebt. Wir richten uns also ein, Benjamin nutzt als Einziger den Schrank und ich stelle fest, dass ich keine Decke habe.


Oliver allerdings kommt, meint er, mit dem Deckenbezug aus, weshalb ich nicht nach einer weiteren Decke fragen werde. Stattdessen bringe ich meine Spritzen in den Kühlschrank. Benjamin weiß von dem Notfallausweis, allerdings habe ich es weder Herr Herring noch Frau Taube gesagt. Wobei sie eigentlich von meinen Medikamenten wissen sollten, immerhin gab es ein entsprechendes Formular, das ich ausgefüllt habe. Trotzdem habe ich ein schlechtes Gewissen.


Die halbe Stunde Pause, die noch vor dem Abendessen bleibt, verbringen wir an der Tischtennisplatte. Lena spielt gut, ich kann es gar nicht, wie so oft.


Um halb neun – endlich mal um eine normale Uhrzeit – gibt es im anderen Hostel Abendessen. Warm. Ganz typisch für Italien wird Nudeln mit Tomatensauce serviert, als zweiter Teller Fleisch mit Kartoffeln, typisch für Jugendherbergen.

Die Vegetarier*innen essen an einem eigenen Tisch, auch Benjamin und die meisten Mädchen. Ob Lena sich also freiwillig neben Jonathan und gegenüber von mir gesetzt hat weiß ich nicht. Kann aber sein, im Moment bin ich mir sogar dessen sicher.


Während dem Speisen reden wir etwas und Lena bittet mich, mal selber etwas über mein Leben zu erzählen. Ich bin mir sicher, dass es da etwas zu erzählen gibt, aber ich treffe auf die erste Person, die soetwas wirklich wissen will. Deswegen bin ich komplett unvorbereitet. Ich rede über meine Beziehung zu meiner Schwester – welche x-mal schlechter ist als Lenas – und sie rät mir, nach einem Streit immer „sorry“ zu sagen oder zu schreiben.


Sie weiß, dass sie somit mich in den Tiefstatus gegenüber allen, die zuhören gestellt hat, aber das tut sie zu einem guten Zweck. Ich nehme den Tipp an. Da Lena sieht, dass ich nicht viel mehr über mein Leben erzählen werde, wechselt sie agil das Thema.


Nach dem Essen, gegen zehn nach neun, gibt Herr Herring die Regeln für den Abend bekannt. Bis zehn dürfen wir – nach Abmeldung und mindestens zu dritt – durch die Gegend spazieren, ab zehn müssen wir in der Jugendherberge sein, ab halb elf auf unseren Zimmern und ab elf ist Nachtruhe.


Die Abmeldung verläuft etwas chaotisch, genauer gesagt gehen wir einfach. Benjamin und Jonathan wollen noch hoch zu den Zimmern etwas holen. Ich beschließe, nicht auf sie zu warten sondern laufe mit den Mädchen mit.


Bald spalten Lena und ich uns ab. Der Hafen ist nicht weit weg und wir laufen mehr oder weniger sinnlos durch das Dorf Menaggio. Obwohl zwischen Lena und mir ständig noch ein „Sicherheitsabstand“ von mindestens einem halben Meter herrscht, fühlt es sich sehr gut an, mit ihr da alleine zu spazieren. Es läuft relativ gut, aber mir kommt wieder der Gedanke, dass wir beide vielleicht doch noch zu jung für einen Kuss sind. Sowieso wäre das erst morgen an der Reihe.


Als wir den Hafen verlassen und weiter in das Dorf laufen, treffen wir auf die anderen Mädchen. Bevor ich geblinzelt habe steht Lena schon zwanzig Meter weiter und geht. Sie dreht sich noch einmal um, lächelt, winkt und geht.


Wollte sie gehen oder fühlte sie sich gezwungen? Mir bleiben Fragen offen. Wollte sie mit mir spazieren gehen? Habe ich sie dazu gezwungen? Ich komme vorläufig zu dem Schluss, dass sie sich vor den Mädchen geschämt hat und dass sie morgen wiederkommen wird. Trauen, durch die Stadt zu gehen, tue ich mich dann nicht mehr, falls ich Lena treffe, weshalb ich wieder zur Jugendherberge zurücklaufe.


Ich biege gerade ein nach oben zu ihr, da sehe ich vielleicht 100 Meter vor mir ein paar Leute laufen. Ich erkenne Jonathan und renne hin. Es sind Benjamin, Oliver und Jonathan, welche runterkommen, allerdings in die falsche Richtung.


Jonathan ist das egal, auch Oliver, aber als ich Benjamin erkläre, die Anderen seien im Dorf, drehen wir um. Beide zusammen haben wir einen gewaltigen Hochstatus gegenüber Jonathan und Oliver.


Am Hafen treffen wir auf ein paar Leute, die gerade gebadet haben vor einem Luxusrestaurant und vom Kellner rausgeworfen wurden. Wir gehen weiter und treffen auf 50 von uns vor einem Zigarettenautomaten. Gehen schneller weiter. Treffen auf die Mädchen. Benjamin behauptet, Herr Herring habe ihm gesagt, wir dürften uns Zeit lassen. Entsprechend bleiben die Meisten im Dorf.


Nur Lena und ich spalten uns wieder ab und gehen in die Jugendherberge. Vorbei am Zigarettenautomaten verlaufen wir uns im Dunkeln ein wenig, finden aber wieder zurück und gehen auf die Zimmer. Doch Jonathan hat den Schlüssel und ich komme nicht in meines rein! Nicht so schlimm, beruhigt mich Lena, trotzdem bietet sie mir an, auf ihr Zimmer zu gehen.


Ich traue mich nicht. Soll ich gehen? Eigentlich müsste Lena alleine sein. Ich überlege. Möchte sie, dass ich zu ihr gehe und wir uns dann alleine unterhalten und dann irgendwann küssen oder so? Möchte sie das? Aber, sage ich mir, stell dir vor, dann kommt Anna oder Emma oder Luisa rein und findet uns. Ich würde Lena komplett zerstören, es würde rauskommen. Ich denke wieder darüber nach, wie man, oder besser ich, von einem normalen Gespräch auf einen Kuss oder eine Liebesszene und soetwas übergeht. Muss ich anfangen mit Sachen wie „das T-Shirt passt dir super“? Das wäre doch lächerlich!

Oliver kommt. Er hat den Schlüssel dabei und macht uns auf. Ich frage ihn, wo Jonathan und Benjamin sind. Kommen gleich. Damit hat sich das Thema, ob ich hoch zu Lena gehe, erledigt. Hoffentlich ist sie nicht sauer auf mich, weil ich ihr Angebot nicht ernst genommen habe.


Ich bin eine Person, die Regeln schon immer sehr ernst genommen hat. Ich hatte als Kind höllische Diskussionen mit Mama und Papa; ob es angebracht sei, über rote Ampeln zu gehen. Mittlerweile ist das zum Glück besser geworden (auch ich gehe öfters über Rot). Aber auf das Zimmer eines Mädchens zu gehen, das ist mir ein zu gravierender Bruch. Schließlich habe ich unterschrieben, „um Missverständnisse zu vermeiden“, nicht in Zimmer „des anderen Geschlechts“ zu gehen.


Ich denke, dass hätte Jonathan auch nicht gemacht, höchstens vielleicht Benjamin. Wenn Frau Taube oder Herr Herring uns dabei erwischen, kriegen wir bestimmt Ärger, schlussfolgere ich. Außerdem, fällt mir ein, ist es schon halb elf, sprich, wir müssen alle auf unseren Zimmern sein.


Benjamin und Jonathan kommen zurück zu Oliver und mir aufs Zimmer. Benjamin macht sofort das Lied an, dass er im Chor aufgeführt hat in den Ferien. Ilias oder Elias oder so ähnlich. Er möchte das Ambiente etwas bessern und macht dafür nicht nur Musik an sondern schlägt vor, ein Kartenspiel zu spielen, jetzt wo er Karten so gut mischen kann. Und weil er das auch vor der kritischen Lena demonstrieren möchte, ruft er sie per Handy dazu. Sie soll zu uns kommen. Wäre ich vorhin nicht bloß zu ihr gegangen…


Jetzt muss sie unilateral entscheiden, was ich von ihrem Vorschlag, dass ich zu ihr kommen soll, gehalten habe. Hoffentlich ist sie nicht sauer. Na ja, jetzt kann ich das nicht ändern. Benjamin braucht zwei Versuche um sie anzurufen, vielleicht hatte jemand kein Netz oder sie ist nicht ran gegangen?! Aber das zweite Mal klappt es schon.


Benjamin fragt, ob sie zu uns nach oben kommen möchte um sich zu uns zu gesellen. Sie korrigiert, die Mädchen sind ein Stockwerk über uns. Tiefstatus für Benjamin. Er versucht Lena den Weg zu unserem Zimmer zu erklären, welchen Flur sie nehmen muss, etc..


Lena unterrichtet ihn: den kennt sie schon. Woher kennt Lena wohl den Weg in unser Zimmer? Ich äußere mich nicht dazu. Lena sagt, sie packt noch etwas Chips und anderes Zeugs ein (Hätte ich zu Lena kommen, um Chips zu essen?) und kommt dann gleich. Es wird aufgelegt.


Benjamin, der sich über Jonathan in einem Hochbett eingerichtet hat, kommt runter und bereitet das Spiel vor. Er stellt seine Musikbox in die Mitte, dazu sein Handy, auf dem er die Lampe eingeschaltet hat. Über das Licht stellt er eine Wasserflasche, sodass sie angenehm leuchtet.


Lena klopft und Benjamin macht ihr auf. Dann setzen wir uns alle in einen Kreis, außer Oliver, der draußen auf seinem Tablet einen Film schaut. Ich biete auch noch Kekse an, die ich aus Frankfurt mitgebracht habe, aber niemand möchte sie. Dann erklärt Benjamin, dass wir jetzt zu spielen beginnen.


Da ich „Queens“ nicht kenne, frage ich nach den Spielregeln. Lena erklärt sie mir netterweise. Dann habe ich das Spiel doch schon gespielt, im Wohnmobil vor vielen Jahren. Wir spielen und die Regeln sind doch noch etwas komplizierter. Meistens gewinnt Jonathan oder Benjamin, gelegentlich auch mal Lena, ich nie. Ich bin dumm.


Wir sitzen zirka eine halbe Stunde da, mittlerweile ist Oliver wieder reingekommen und schaut auf seinem Bett weiter. Als eigentlich schon Nachtruhe ist, kommt Frau Taube rein. Sie klopft und Benjamin sagt „ja“.


Dann streckt sie ihren Kopf durch den Türrahmen, hört das Lied, schaut zu Oliver, zu Jonathan, Benjamin, dann zu mir und letztendlich zu Lena. „Oh, ihr seit ja noch gemischt. Es ist schon nach elf.“ Benjamin: „Dann, Lena, wünsche ich dir eine gute Nacht.“ Lena geht auf ihr Zimmer.


Das hat Benjamin gut gemanaged. Aber Frau Taube war auch nicht sehr sauer. Jonathan, Benjamin, auch Oliver und ich bereiten uns vor, ins Bett zu gehen. Deswegen gehe ich zum Kühlschrank, ins Erdgeschoss. Frau Taube geht auf ihr Zimmer, neben unserem, und fragt mich, wohin ich gehe. Ich sage nur: „Medikamente holen“ und habe ein schlechtes Gewissen. Als Antwort sagt sie, sie kümmert sich darum, was nun wirklich angesichts der Tatsache, dass sie das Formular nicht gelesen hat und gar nicht weiß, worum sie sich kümmert, Quatsch ist.


Während ich mir die Spritze gebe und meinen Schlafanzug anziehe, lästern Jonathan und Benjamin über Oliver. Sie haben Recht, dass er oft nervt und definitiv nicht ständig mehrere Freundinnen auf Instagram und What’sApp haben sollte, aber das ist, finde ich, kein Grund genug, um ihn ständig zu nerven. Trotzdem tut es Jonathan. Ich schreibe noch die Status auf und schlafe ein.



Anmerkung von Manzanita:

Ausschließlich falsche Namen.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (31.10.22, 08:13)
Nee, sorry, streng chronologisch erzählte Klassenausflugsfahrten sind mir ein Greuel. Und dann diese ewige Sitzplatzsucherei! Was das mit dem Status zu tun haben soll, ist unverständlich.
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