Herr B.

Erzählung zum Thema Alter

von  Saira

Vor etwa einem Jahr traf ich, während meines täglichen Waldspazierganges mit Wilma, das erste Mal Herrn B. Herr B. ist ein Schnellgeher und von weitem hatte ich zunächst für einen Moment den Eindruck, als sei er auf der Flucht. Es war ein kalter Novembermorgen und ich staunte nicht schlecht, als ich auf den alten, blassen Herrn, der nur mit einer Baumwollhose, die ihm bis zu den Knien reichte, einem langärmeligen Unterhemd, einem Handtuch um den Hals gewickelt, Waden- und Knieschonern sowie mit Socken und Turnschuhen bekleidet, traf. Er trug eine Sportuhr am Handgelenk.


Ich grüßte ihn mit einem fröhlichen „Moin“ und er blieb lächelnd stehen und bückte sich kurz zu Wilma, um sie zu streicheln. Dann meinte er: „Ich habe keine Zeit. Meine Uhr piept, wenn ich zu lange pausiere.“ Wir wünschten uns noch einen schönen Tag und schon ging Herr B. weiter.


Im Laufe der Zeit trafen wir uns immer mal wieder. Stets hielten wir uns nur in kurzen Gesprächen auf. Inzwischen wusste ich, dass Herr B. 86 Jahre alt war und alle zwei Tage mehrere Kilometer schnell durch den Wald ging und dass er über seine Leistungen nicht allzu zufrieden war. Vor zehn Jahren noch habe er Marathon gelaufen.


Ich war schwer beeindruckt von diesem sportlichen alten Mann und lobte seine Agilität, erwähnte aber meine Sorge, dass er für mein Empfinden zu leicht bekleidet sei. Er nahm meine Sorge ernst und trug seither einen Schal. Auf mehr ließ er sich leider nicht ein.


Er erzählte mir von seiner an Demenz erkrankten Frau. Sie sei bettlägerig und auf einen Rollstuhl angewiesen. Täglich käme der Pflegedienst, aber zwischendurch, so auch nachts, würde er sie im Bett umdrehen und bei Bedarf in den Rollstuhl befördern. Sie werde immer schwerer für ihn. Darum müsse er sich fit halten.


Während seiner Schilderungen spürte ich tiefes Mitgefühl und große Bewunderung für diesen Mann, der seine Frau, solange es ihm möglich wäre, bei sich zu Hause pflegen wollte.


Wilma begrüßte ihn stets mit einem freundlichen Schwanzwedeln. Herr B. war entzückt von der Kleinen. Er erlebte mit, wie sie mit der Zeit vom Miniwelpen zur jungen Lady heranwuchs. Wilma ist ein Jack-Russel-Pinscher-Mischling und eine ausgesprochen freundliche Hündin. Sie weiß nicht, dass sie klein ist und spielt mit großen Hunden genauso gerne wie mit kleinen. Sie kennt keine Aggressionen und ist keine Kläfferin.


Als Herr B. eines Tages auf meinen Mann, der mit Wilma unterwegs war, traf (ich war tags zuvor über eine Baumwurzel gestolpert und hatte mich der Länge nach hingelegt),  blickte er zunächst misstrauisch auf den fremden Mann, stellte aber die logische Frage: „Wilma heute ohne Ihre Frau im Wald?“ Durch meine Erzählungen hatte mein Mann Herrn B. sofort erkannt und klärte ihn auf.


Als ich einige Tage später, mit Knie- und Fersenbandage versehen, wieder meine täglichen Waldwanderungen mit Wilma aufnahm, traf ich auch Herrn B. wieder. Er erzählte mir von dem Gesundheitszustand seiner Frau, der sich leider verschlechtert habe. Ich machte mir viele Gedanken um Herrn B. Gerne hätte ich ihm geholfen, aber da sind meine Schwiegereltern, die auf Hilfe angewiesen sind.


Ich habe Herrn B. nicht mehr wiedergetroffen. Wie ich vom Förster erfuhr, ist Herr B. während eines Waldlaufes tot umgefallen. Für mich ist ein Freund gegangen. Ich bin sehr traurig.



©by Sigrun Al-Badri/ Oktober 2022






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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (04.11.22, 11:29)
Hallo Sigi,

deine Trauer um diesen liebenden Menschen überträgt sich auf deine LeserInnen.

Herzliche Grüße
Ekki

 Saira meinte dazu am 04.11.22 um 17:47:
Hallo lieber Ekki,

dein Kommentar ist für mich ein schönes Feedback. Ich danke dir!

Herzlichst
Sigi

 diestelzie (04.11.22, 12:09)
Ich spüre in deiner Erzählung den Wald, die Liebe zum Leben und die Trauer um einen Menschen, der dir wertvolle Augenblicke schenkte.

Liebe Grüße 
Kerstin

 Saira antwortete darauf am 04.11.22 um 17:48:
Liebe Kerstin,

die Begegnungen mit Herrn B. wurden von besonderen Augenblicken geprägt. Er fehlt mir. Du hast meine Emotionen feinfühlig erfasst. Ich danke dir, auch für deine Empfehlung+Favorisierung!


Liebe Grüße
Sigrun

 AlmaMarieSchneider (04.11.22, 12:36)
Einen gern gesehenen Menschen nicht mehr begegnen zu können hinterlässt ein schmerzliches Loch im Leben.
Dein Text stimmt mich traurig, liebe Saira.

Mitfühlende Grüße
Alma Marie

 Saira schrieb daraufhin am 04.11.22 um 17:49:
Liebe Alma Marie,

es ist, wie du schreibst. Wenn ein Mensch, der einem wichtig geworden ist, plötzlich nicht mehr im Hier ist, fehlt er schmerzlich.

Danke für deinen feinfühligen Kommentar, deine Empfehlung+Favorisierung!

Herzliche Grüße
Sigrun

 TassoTuwas (04.11.22, 18:36)
Liebe Sigrun,
 
das Leben ist oft ein "Aneinandervorbeilaufen", aber kommt man ins Gespräch, erfährt man vom Alltag anderer Menschen. Das muss nichts Großartiges oder Außergewöhnliches sein, es ist die freundliche Anteilnahme, die den Tag ein wenig heller macht.
    
Man sollte öfter stehen bleiben und einander zuhören und reden.

Nachdenkliche  Grüße
TT

 Saira äußerte darauf am 04.11.22 um 21:30:
Lieber Tasso,

eigentlich bin ich im Kontakt zu fremden Menschen eher zurückhaltend, aber seitdem Wilma in mein Leben getreten ist und wir täglich gemeinsam durch die Wälder streifen, fühle ich eine gewisse innere Ruhe, die mich aufmerksamer und offener sein lassen.

Ich freue mich über deine Gedanken und danke dir dafür!


Herzlichst
Sigrun

 harzgebirgler (08.11.22, 17:07)
ich treff' oft sommers auch solch alten herrn
der radelt, stoppt und unterhält sich gern
mit mir, was mir gefällt, der durchaus hofft
dass dies künftig geschieht gleichfalls noch oft.


lg
henning

 Saira ergänzte dazu am 08.11.22 um 18:16:
Hallo Henning,
 
ich wünsche dir, dass du den alten Herrn noch sehr lange triffst.

Danke für dein Lesen, Kommentieren und Empfehlen!
 
Liebe Grüße
Sigrun  
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