Steh auf, meine Geliebte, und komm

Predigt zum Thema Erwartung

von  tulpenrot

Der Predigttext aus dem Hohenlied:

 

Da ist die Stimme meines Geliebten!

Siehe, er kommt!

Er springt über die Berge,

er hüpft über die Hügel!

Mein Geliebter gleicht einer Gazelle

oder dem jungen Hirsch.

Siehe, da steht er

hinter unserer Mauer,

schaut zum Fenster hinein,

blickt durchs Gitter.

 

Mein Geliebter beginnt und spricht zu mir:

»Mach dich auf, meine Freundin,

komm her, meine Schöne!

Denn siehe, der Winter ist vorüber,

der Regen hat sich auf und davon gemacht;

die Blumen zeigen sich auf dem Land,

die Zeit des Singvogels ist da,

und die Stimme der Turteltauben

Lässt sich hören in unserem Land;

am Feigenbaum röten sich die Frühfeigen,

und die Reben verbreiten Blütenduft;

komm, mach dich auf, meine Freundin;

meine Schöne, komm doch!«

 

Ein poetischer Text aus dem Alten Testament.

Metaphorik, Leidenschaft spielen eine Rolle.

Wer wohl solche Zeilen geschrieben hat? Wie muss derjenige gefühlt, gedacht haben? Warum hat er diese Zeilen geschrieben? Man sagt, es sei König Salomon gewesen. Vielleicht.

 

Dem Verfasser (und denen, die es in den Kanon der Hl Schrift aufgenommen haben) war es jedenfalls sicher kein Anliegen, mit diesen Bibelworten eine Gemeinde zu reglementieren, Verhaltensregeln aufzustellen und sie durchzusetzen. Sein Thema war keine Rüge über ein Fehlverhalten, sondern ein Herunterkommen von hohen Ansprüchen, einfach nur da sein für den Geliebten und ihn genießen.

 

Mein Geliebter – meine Freundin, so reden die beiden Sprecher sich in unserem Text an. Zwei Personen kommen zu Wort. Es ist ein für unsere Ohren seltsamer Teil in der Bibel, fernab von jeder Belehrung oder Maßregelung, von hohen theologischen Erwägungen, die wir gewöhnlich erwarten. Eher ein Liebesgesang. Ein Hochzeitslied. Es berührt Bereiche, die wir als unschicklich ansehen, die wir auf jeden Fall in einem ernsten Gottesdienst, in der Öffentlichkeit, nicht hören wollen.

 

Die Sprecherin (Sängerin?) kann den Geliebten schon kommen sehen, wie er herbeispringt. Er geht nicht, er hüpft aus Vorfreude, er kann es kaum erwarten sie zu treffen. Er beeilt sich. Nichts kann ihn aufhalten, kein Berg, kein Hügel, er überwindet die Hindernisse. Nicht mühsam, sondern leichten Fußes ist er unterwegs.

 

Er ist schnell, zwar nicht im Galopp wie ein Pferd oder gar plump wie ein Elefant oder tückisch flink wie eine Eidechse, nicht gefährlich wie ein Panther, sondern wie eine Gazelle. Gazellen sind langbeinig und schlank, auch elegant und schön anzusehen. Gazellen sind schnelle, ausdauernde Läufer. Er überrumpelt die Geliebte nicht, erschreckt sie nicht, sondern kommt nur einfach leichtfüßig daher.

 

Auch wie ein Hirsch ist der Geliebte, der seinen Feinden mit weiten Sprüngen entgeht. Flink ist er, wie ein gewandtes und schnelles Tier. Der Geliebte hat es also eilig, er will rechtzeitig da sein, will die Geliebte nicht verpassen. Das ehrt ihn und mit seiner Eile ehrt er zugleich die Geliebte. Er will sie nicht unnötig warten lassen, lieber ist er zu früh.

 

Vor dem Haus steht er dann, frühzeitig, rechtzeitig? – warum rennt er dann nicht atemlos hinein zu ihr? Seine Höflichkeit verbietet es ihm, denke ich. Er überrennt die Geliebte nicht, er zügelt sich. Er wahrt die Grenze zu ihrem Eigentum, ihrer Wohnung /ihrem Haus, ihrem höchst Persönlichen, ihrer Intimität. Er durchbricht nicht einfach mutwillig ihre Schranken. Er steht hinter der Mauer, die das Grundstück umgibt, späht dann nur durch das Gitter, das sie schützt, blickt nur zum Fenster herein. Er rennt nicht die Tür ein. Aber er sucht die Nähe zur Geliebten. Sie soll seine Sehnsucht erspüren. Er will sie sehen, wenn er sie auch (noch) nicht hören kann. Sie aber hört ihn ohne sich zu zeigen. Welche Spannung sich da zwischen den beiden aufbaut! Die Sängerin zögert das Treffen hinaus – die Begegnung wird dann umso leidenschaftlicher sein, vermute ich.

 

„Steh auf, meine Freundin, und komm“, sagt er. Er lockt sie, er möchte sie bei sich haben, er freut sich, wenn sie sich ihm nähert. Er befiehlt nicht, aber er wünscht sich ihre Nähe. Es ist ja gerade die rechte (Jahres-)Zeit, alles Beschwerliche ist vorbei, alle Kälte vorüber. Vermutlich Frühling. Es ist die beste Zeit für eine Begegnung. Jetzt.

 

Die Bilder aus dem Naturgeschehen zeigen, dass gerade eine wunderbare Zeit ist. Keine Regenzeit, der Winter ist vorüber, Blumen blühen, Vögel zwitschern, Turteltauben gurren (oder nur eine), Feigen werden reif, Reben blühen und duften. Ich vermute, dies alles sind Metaphern für erwachende Romantik, Leidenschaft und Lust. Es ist jedenfalls alles bereit für eine ungestörte Begegnung zwischen den Geliebten. Auch ist keine Erntezeit, in der es womöglich viel Arbeit gibt, sondern alles ist bereit um zu wachsen und zu reifen, zur Entfaltung der Schönheit, der Üppigkeit. Es ist eine Zeit des unbeschwerten Genusses, der Freude an einander. Es gibt nichts, was stören könnte. Die Geliebte muss sich nur auf den Weg zur Tür machen und sie öffnen und sich ihrem Geliebten zeigen. Kein weiter Weg ist nötig, keine Anstrengung.

 

Und wir? Heute am 2. Advent? Dürfen wir über solch einen Text ernsthaft nachdenken? Jetzt in dieser Zeit? Oder überhaupt als entschlossene Christen? Ist die Zeit nicht gerade so schrecklich, dass uns solche romantischen Zeilen verfehlt vorkommen? Das passt nicht in unsere Zeit. So ein Kitsch.

Man kann so denken, aber man muss nicht.

 

Ist nicht jeder Gottesdienst eine solche Auszeit? Nicht jede private Andacht oder jede Gebetszeit, dieses Zusammensein mit Gott, unserem Herrn, den wir lieben, ein Ausscheren aus dem üblichen zermürbenden, angstmachenden und krankmachenden Getriebe? Wenn das heute in diesem Text einmal ganz ungewöhnlich ausgedrückt und bebildert wird, dann hat das nichts mit Gefühlsduselei zu tun, sondern mit Seelenhygiene. Womit füttern wir unsere Seelen und Gedanken? Warum ziehen wir unserer Seele immer nur rauhe Socken an, die kratzen und die Haut wund werden lassen, und vergessen, dass wir auch weiche Socken anziehen dürfen, um uns zu schonen?

 

Gott schont uns, in allen Widrigkeiten ist das möglich. Er klopft an. Wir dürfen gefahrlos die Tür aufschließen. Wir dürfen freudige und freundliche Gemeinschaft haben mit ihm wie diese Geliebten/Verliebten es haben werden. Unser Geliebter guckt schon durchs Fenster, er steht vor der Tür. Es ist Advent. Und ich muss als Predigerin nicht immer die ganze Scheußlichkeit der Welt in jeder Predigt beim Namen nennen und das Grauen in den Seelen der Zuhörer weiter befeuern. Ein Prediger hat doch viel eher eine Botschaft, die das Alltagsgeschehen übertönen kann, das in leisen Tönen lauter redet. Es gibt eine andere Wirklichkeit, die ausschert, Gottes Wirklichkeit, und die heißt: „Siehe ich stehe vor der Tür und klopfe an. Ich stehe vor dem Fenster und schaue hinein zu dir“, wie der Geliebte aus unserem Text. „Ich will dich besuchen“, sagt er. Wollen wir diesen Besuch?

„Du sollst dich nicht mehr ängstigen oder dich sorgen. Sorgen, Angst und Not sind Realitäten, die dein Herz eng werden lassen. Ich habe etwas dagegen zu setzen“, sagt Gott. „Von mir kommt Erlösung, kommen Singen und ein Gelöstsein. Ich will an einem Tisch mit dir sitzen und mit dir essen, ein Mahl mit dir halten. Auch die Natur wird erlöst sein. Gazellen und Hirsche sind unterwegs, Turteltauben gurren, Früchte reifen. Du wirst es gut haben bei mir und mit mir. Öffne die Tür und lass mich ein.“ Vielleicht könnte man diese Bibelstelle so interpretieren? Hinter diesen Worten steckt so viel erwartungsvolle Freude, so viel Lebendigkeit. Sie sind wie hell gemalte Bilder, die eine innige und liebevolle Beziehung beschreiben. Das macht „Lust auf mehr“. Das wirkt anziehend. Das erweckt andere Gedanken als die über Sünde, Tod und Teufel. Ob sich jemand traut darüber sinnvoll zu predigen?

 

Während ich dies schreibe, fallen Bomben, werden Menschen ermordet und hungern, verenden Tiere, verdorren ganze Kontinente. Ich habe es nicht vergessen oder schaue womöglich einfach weg. Ich biete keinen Zuckerguss für die Scheußlichkeiten dieser Welt, sondern will nur darauf hinweisen, dass der Advent noch eine andere Sprache spricht als die der gewaltigen Bedrohlichkeit. Diese Sprache poltert nicht, sie hat einen leisen Unterton: Worte über einen werbenden Gott, der das Leid kennt, aber mitten im Leid bei den Menschen wie ein Freund und Nachbar sitzt und sie tröstet mit der Aussicht auf einen neuen Himmel und eine neue Erde und einen erneuerten Menschen.

 




Anmerkung von tulpenrot:

Predigt zu dem für den 2. Advent 2022 vorgeschlagenen Predigttext aus Hld 2, 8-13

Diese Predigt habe ich angefertigt, weil in meiner Umgebung die Predigten über alternative Bibelstellen gehalten wurden. Mich hat aber gereizt, eine Predigt daraus zu machen. Sie wurde also nicht in einem Gottesdienst gehalten und so einer "Feuerprobe" unterzogen.

Und völlig überraschend begegnete mir ein Gedicht von Sarah Kirsch, "Die Luft riecht schon nach Schnee". Die Verwandtschaft dieses Textes mit dem Hohenlied ist unverkennbar. Auch spannend. Ich arbeite daran.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Dieter Wal (08.12.22, 10:58)
Der ursprüngliche Kommentar wurde am 08.12.2022 um 11:54 Uhr wieder zurückgezogen.
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram