Hermann Hesse: Der Steppenwolf

Geschichte zum Thema Täuschung

von  Terminator

13.12.2022, von 12:30 bis 22:25 las ich den Steppenwolf, d. h. am Stück. Nicht die Begeisterung, sondern die 11 Stunden Schlaf davor machten es möglich. Der Steppenwolf ist das mir meistempfohlene Buch, deshalb vorab: Nein, es geht mir nicht wie dem Steppenwolf. Keine zwei Seelen wohnen in meiner Brust; einerseits ist es nur eine, andererseits, wie auch die Weisheit dieses Werks nahelegt (und was mir schon vorher bekannt war), unzählig viele. Doch nicht so wie bei HH, dem Protagonisten, sondern kontrolliert, reflektiert, bewusst. Denn meine Interpretation des Werks ist: HH ist schizophren und die ganze Geschichte des "Nachholens" all dessen, was er durch sein Leben im Geistigen verpasst hatte, ist nicht in der Realität, sondern im Wahn passiert.


Bereits wie HH zum Traktat kommt, lässt darauf schließen: als hätte jemand ihn sein ganzes Leben lang beobachtet, und zwar von innen! HH ist verrückt, als er die Schrift "Nur für Verrückte" zu lesen glaubt. Von da an spielt sich nichts Wichtiges mehr in der Realität ab. Der vorangestellte Bericht des "Verlegers" handelt von einem einsamen Mann, der im stillen Kämmerlein so überzeugend weiblichen Besuch halluzinierte, dass auch dem Nicht-Ich-Erzähler schien, eine Frau hätte den einsamen HH besucht. Doch nein, er war die ganze Zeit allein.


Erst war er allein, dann in Harry und den Steppenwolf gespalten, und schließlich in die Persönlichkeiten zersplittert, die ihm als Hermine und Pablo, Maria und die Leute auf dem Maskenball vorkamen. Natürlich durchschritt HH im Wahn die nächtliche Stadt, soff und wanderte, und der Besuch beim Professor war echt. Wie im Film "A Beautiful Mind" mischte sich der schizophrene Wahn mit der Realität, bis der Protagonist beides nicht mehr zu unterscheiden wusste.


Die letzte Szene, der Wahn im Wahn, ist ein letzter Hinweis darauf, dass alles nur im Wahn erträumt war. Dem aufmerksamen Leser deucht es bereits in der Mitte des Traktats. Aber hier, in gesteigerter Verzweiflung, lässt HH all die verpassten Chancen Revue passieren, erlebt auch eine Revolte gegen die moderne Welt, die einen Julius Evola oder einen Ted Kaczynski schmunzeln ließe, und für die der Halbhalbharry genauso zu feige war wie für all die Frauengeschichten, die er im Wahn nachholt.


HH, Harry Haller, ist 48 wie HH, Hermann Hesse, als er den Roman verfasste. Hermine erinnert Harry an Hermann: Hermine ist ein Spiegel des mit dem Protagonisten identischen Autor. Ist Hermine Harrys Anima? Oder ist sie gar das Spiegelbild des Narziss? Letzteres ist wahrscheinlicher, denn in der Schlüsselszene, in der sie, wie angekündigt, HH in sich verliebt macht, tritt sie als Mann auf. Das deutet nun keineswegs auf Narzissmus hin, aber es zeigt, dass Hermine nicht aus der Außenwelt, sondern aus Harrys Innenwelt kommt.


Dass die Persönlichkeit des Protagonisten (wie angeblich jedes Menschen) gespalten ist, und zwar nicht nur in zwei, sondern in unzählig viele, bedeutet, wie auch gesagt wird, keineswegs das Chaos, im Gegenteil: es gibt jederzeit ein Ich, mit dem sich HH im jeweiligen Moment identifiziert. Da er ostentativ als zwei lebt, als Harry und der Steppenwolf, hat das Arsenal seiner Iche nicht einen, sondern zwei Führer. Eines davon wird zu Hermine, als Harrys Wahnodyssee beginnt. Der Wolf war all die Jahre nur ein Platzhalter für ein anderes Ich, ein Mit-Ich, das sich das Ego, die Persona, die Maske "Harry" nicht bewusst zu machten getraut hatte.


Es war mir ein Vergnügen; ich erkannte den Einfluss des Steppenwolfs auf das Kino und die Philosophie der folgenden Jahrzehnte. Aber mich selbst spricht der Steppenwolf nur peripher an. Nur die zusätzliche Dimension, der Unterschied zur Fabrik-, Dutzend- und Meterware Mensch, das Heimweh nach der Ewigkeit habe ich mit HH gemein. Der sinnliche "Ausgleich" zum Geistigen reizt mich nicht; das Geistige ist mir nicht lieblos, die Einsamkeit nicht bitter. Hermann Hesse verarbeitet im Steppenwolf seinen Lebensweg als dionysischer Mann; HH ist lunar, ich bin solar, und kann mit dem Protagonisten insofern mitfühlen, als dass er wenigstens nicht chthonisch-tellurisch ist, aber als solarer Mann teile ich weder seine Sorgen noch seine Ängste noch seine Sehnsucht.


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Kommentare zu diesem Text


 Verlo (14.12.22, 01:14)
Danke, Terminator, dein Text hat mich angeregt, mich mehrere Stunden mit Hermann Hesse, seinem Werk, seinen Frauen, seine Wohnorten zu beschäftigen.

 Terminator meinte dazu am 14.12.22 um 01:36:
Besprechungen der Klassiker sollen auch anregen. Bloßes Informieren wäre bei einem bekannten Buch zuwenig.

 Verlo antwortete darauf am 14.12.22 um 08:35:
Ich habe den "Steppenwolf" seit Jahrzehnten zu Hause.

Es hat einen Grund, warum ich ihn bisher nur angelesen habe, obwohl mehrmals von Freunden empfohlen.

 Verlo schrieb daraufhin am 14.12.22 um 09:43:
Terminator, wenn ich in Hermann Hesses "Unterm Rad" lese, der Protagonist wird vom Rektor seiner Schule und vom Vater von Gleichaltrigen ferngehalten, um schlechten Einfluß abzuwehren, bekommt Extraunterricht als einziger der Stadt, und für seinen Aufstieg in die Bildungselite, gestattet der Vater dem Protagonisten wieder das Angeln, dann besteht für mich kein Zweifel, daß er Protagonist nicht von der Gesellschaft, sondern von den Eltern zerstört wurde.

Das ist selbstverständlich weniger spektakulär, als wenn die Gesellschaft ein junges Talent zerstört.

Im Grunde müßte man zuerst "Unterm Rad" lesen, um "Steppenwolf" zu verstehen.

Nicht vergessen sollte man auch, daß Hermann Hesse mit seinen Texten Geld verdienen wollte, und es auch hat.

Daß die Gesellschaft das Individuum hindert, glücklich zu sein, blendet aus, daß jeder zuerst selbst für sich verantwortlich ist.

Ist die Gesellschaft schuld, muß man keine Verantwortung übernehmen. Übernimmt man keine Verantwortung, wird sich aber auch nichts ändern. Aber dafür kann man ja nichts, denn die Gesellschaft hindert einen.

 Augustus (14.12.22, 13:10)
Nun ja, ich lese Werke stets unabhängig von meiner eigenen Persönlichkeit. Neutral quasi. Ich bin Beobachter und würde nie mit einer fiktiven Figur einen Vergleich mit mir anstellen. Das machen vllt. wenn dann andere.

 Terminator äußerte darauf am 14.12.22 um 21:33:
Ein Freund nennt mich seit Jahren scherzhaft "Steppenwolf", und legt mir nahe, die gleichen Erfahrungen zu machen.
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