Gedanken um fünf Uhr

Text zum Thema Alleinsein

von  Mondscheinsonate

Heute habe ich ein Vorstellungsgespräch bei einer sehr schönen Anwältin, einer Frau Doktor. 


Meine Großkusine hat auch den Doktor in den Rechtswissenschaften gemacht. Man kann sich gar nicht vorstellen, was das für ein lieber Mensch ist. Ich erinnere mich noch, hoch den Degen, ein Stöckchen, galoppierten wir um den Rohbau ihrer Eltern. Sie war bereits sechs Jahre älter, spielte aber mit mir mit, wir waren die zwei Muskeltiere, nicht verschrieben, zwei Heldinnen.

Ich war eine willkommene Abwechslung zwischen dem Lernen und Lernen, von irgendwoher mussten die Sehr gut kommen, die sie von der Grundschule bis zum Doktorat hatte. 

Am Tag der Beerdigung ihres Vaters, es war letztes Jahr, lächelte sie mich an, es war ein trauriges Lächeln, sagte: "Du wirst immer ein Muskeltier bleiben." 

Hoch den Degen!


Hermann Hesse schrieb sinngemäß: "Man sollte das Leben nicht verlängern, nur vertiefen."

So gab es gute Menschen in meinem Leben, immer wieder, oft nur kurze Begegnungen, wirklich kurz, ein paar Jahre oder einen Abend lang, die mir in schöner Erinnerung blieben. Interessanterweise, die letzten 26 Jahre niemand mehr. Also, niemand, der die Seele berührte, so sehr, dass jeder Augenblick sich einbrannte. 

Vielleicht ist die Kinder- und Jugendseele bemalbarer. Meine Zeichenprofessorin sagte immer: "Kommt mir ja nicht ohne Grundierung, ein Bild ohne Grundierung ist gar nichts!"

Damals waren die Menschen um mich die Grundierer, der Rest wurde immer abstrakter.

Selbst das Oberflächliche war tiefer als es jetzt ist. 

"Wenn du das Mädchen noch einmal angreifst, ohne dass sie das will, fliegst du in hohem Bogen raus!" 

Das war gerade Andi, ein Kellner und das Mädchen war ich. Natürlich lässt ein Betrunkener nicht gleich nach.

"Komm, du gehst jetzt!" Und schon sprang Markus und der DJ Andy dazu und drängten den massiven, betrunkenen und randalierenden Körper unsanft aus dem Lokal. "Du hast Lokalverbot!" Dies noch auf der Straße nachgerufen. 

Ja, auf mich wurde überall und immer aufgepasst. Auch, wenn das Lokal bummvoll war. Ich war am Radar. 

"Auf dich muss man gut aufpassen, die Typen sind schrecklich, wenn sie Einen zuviel hatten!"

Jahre später im AKH. 

"Es ist so schön dich zu sehen, kleines Fräulein!" - Andi, der Kellner. Ich spürte Glück. Nein, er griff nie auf mich zurück wie eine Übriggebliebene, wir waren längst Freunde, jahrelang, bis ich wegzog und nie wieder kam. 

Ich saß immer, wenn das Lokal bummvoll war, hinter der Bar am Rand. Dann schob er hie und da meine Beine sanft auf die Seite, wenn er in die Schublade musste, wo die Zigaretten aufbewahrt wurden. Das erste Getränk bezahlte ich noch, dann wurde bezahlt. Alles. "Weil ich ein Mädchen bin ...!"

Es spielte jedes Wochenende dasselbe, wir liebten es. Welche Lieder blieben im Ohr? Tainted Love, If you can't give me Love, We will Rock You, mehr noch. 

"Kind, du isst mir aber bitte nicht alle Orangen auf, die brauche ich noch!"

Ich lachte. "Das sind die besten Orangen der Welt!" 

"Ja, sowas bekommt man nicht im Supermarkt, nur am Großmarkt, aber lass mir welche übrig!"

Ich habe seitdem nie wieder Orangen gegessen, meide sie, mag sie nicht mehr. Vielleicht, weil die besten Orangen für mich Geschichte sind.

"Tequila für alle!"

"Für mich bitte nur eine Orange!"

Ein Tequilarausch war ungut.

Eine zeitlang war der Tequila mit Wurm modern. Mich gruselte es sehr. Ich trank das nie. 

Ich lächle. 

"Hast du Hunger?" Das war Leo.

"Ja."

"Hast du überhaupt schon was gegessen?"

"Nein."

"Ist die Mutter schon wieder saufen?"

"Ja."

Er seufzte. 

"Da hast 40 Schilling. Hol uns beiden Pizzastangerln."

"Mit Knoblauch?"

"Aber ja!"

Ich strahlte. 

Leo war der Türsteher, der sich neben seinem Studium der Betriebswirtschaft sein Geld verdiente, das er aber nicht nötig hatte, denn er hatte eine große Dachwohnung. Ihm war nur langweilig. 

Heute leitet er eine Agentur mit 25 Angestellten. 


Nein, das war nicht einfach fortgehen, das war rettend. In jeder Hinsicht. 

"Was findest du an dem Andi?"

"Er ist sooo schön."

"Na ja, ich steh auf Frauen, kann das nicht beurteilen."

"Du weißt schon, dass die Leute glauben, dass du mit jedem ins Bett gehst?"

"Das glauben sie immer von Frauen, die nicht hässlich sind. Aber, schau dir die X. an, die ist nicht gesegnet, nimmt sich aber jeden Tag jemanden mit nachhause. Das taugt ihr."

"Stimmt."

"Keiner verurteilt sie."

"Stimmt auch."

"Eben. Ich gehe mit niemanden mit und nehme niemanden mit nachhause."

"Ich weiß das. Ich sehe es. Aber die Leute..."

"Lass sie reden. Ist mir egal."

"Aber, mit dem Andi hast du schon was?"

"Ja."

"Wo?"

Ich lachte. 

"Okay, du Laus, geht mich ja nix an."

"Niemanden."

"Schau, Kleines, da kommt dein Nachbar nachhause mit einer Frau."

Ich winkte zu R. über die Straße, er nickte zurück.

"Der hat auch einen Verschleiß."

"Ist doch ein Mann, da sagt keiner was."

"Na ja, wie du siehst schon. Es wird halt als normal angesehen."

"Genau das ist das Problem unserer Zeit."

Schweigen.

"Du kleiner Teufel vögelst mit dem Andi. Stört dich das nicht, dass er viele andere hat?"

"Nein."

"Versteh ich nicht."

"Ich sehe Menschen nicht als Eigentum, Leo."


Sah ich nie. Das heißt aber nicht, dass es mir nie weh tat. Außerdem war ich eine kleine, selbstverliebte Fast-Frau, die jeden um den Finger wickeln konnte. Absolut jeden. 

Irgendwann verflog alles. Einfach alles. Ich schüttelte das alte Ich ab, es existiert nicht mehr. 


Zurück zur Beerdigung meines Großonkels.

"Das starke Muskeltier, das die Freiheitsstaattruhe (nicht verschrieben), so cool fand, das existiert nicht mehr, Susi."

"Doch." Sie zeigte auf mein Herz. 

"Da drinnen. Hole es wieder raus."


Heute.










Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 franky (14.12.22, 10:51)
Hi liebe Mondscheinsonate
 
Wie immer Toll und flüssig geschrieben.
Man glaubt das Klappern der Tastatur zu hören, so Hautnah.  
 
Liebe Grüße nach Wien von Franky

 Mondscheinsonate meinte dazu am 15.12.22 um 11:51:
Lieb.
Jarina (33)
(15.12.22, 01:06)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Mondscheinsonate antwortete darauf am 15.12.22 um 11:52:
Das ist ein sehr schönes Kompliment und ich werde diese Orangen einmal probieren.
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram