Ich war eine Sturzgeburt und landete unsanft auf einer großen Eisscholle in der Arktis. Man schrieb das Jahr 1950. Mein roter Mantel maß ca. einen halben Meter und reichte mir bis zu den roten Stiefeln. Eine viel zu enge Wollhose bedeckte nur knapp meinen dicken Bauch. An meiner Nase hing ein Eiszapfen und mein Bart war gefroren. Auf dem Kopf konnte ich eine lange Mütze mit Bommel ertasten.
Mir war schrecklich kalt. Ein Rentier mit einer leuchtend-roten Nase, das um ein Vielfaches größer war als ich, stand da und scharrte mit den Hufen. Es schielte und sprach: „Na endlich, Joulupukki, das wurde aber auch Zeit! Nimm Platz und hülle dich in die Decke auf dem Schlittensitz ein.“ Hinter ihm standen weitere acht Rentiere. Erstaunt über meinen Namen, den das Tier offenbar kannte, kletterte ich mühsam auf den Schlitten und fragte: „Wie heißt ihr und wohin werden wir reisen?“ Die Rentiere blickten mich freundlich an und stellten sich einzeln vor. Ich erfuhr, dass ihre Namen Dasher, Dancer, Prancer, Vixen, Comet, Cupid, Donner und Blitzen sind. Zuletzt stellte sich Rudolph, das Rentier mit der roten Nase, vor. Es erklärte mir: „Wir bringen dich jetzt zum Berg Korvatunturi am Zauberwald.“ „Hm“, und wo ist der Zauberwald und warum trägt der Berg den Namen Korwatunturi?“, fragte ich weiter. „Der Zauberwald liegt in Nordfinnland und der Berg heißt so, weil er zwei Gipfel hat, die von weitem so aussehen, als würde dort ein sehr großes Tier mit stehenden Ohren sitzen. Der Korwatunturi kann hören, ob die Kinder über das Jahr brav gewesen sind. Die Wichtel tragen das Gehörte in das Zauberbuch ein. Halt dich fest, Joulupukki, es ist schon spät. Auf geht’s!“ Okay, mein Sturz auf den Kopf konnte eine Erklärung dafür sein, dass ich keine Ahnung hatte, warum ich so hieß, wie ich hieß und warum ich mit neun Rentieren zum Zauberwald flog.
Nach einem, ich gebe zu, himmlischen Flug setzten Rudolph und die anderen Rentiere zur Landung auf dem Berg Korvanturi an. Mein Blick richtete sich auf ein kleines Dorf mit sehr kleinen Häusern, das im Tal lag. Es war eingebettet zwischen Kiefern, Birken und Fichten an einem See. Ich war beeindruckt, wie schön es hier war.
Rudolph sprach: „Joulupukki, hier ist dein neues Zuhause.“ Ich erblickte eine Tür, die in den Berg zu führen schien. Vor Anstrengung ächzend, versuchte ich vom Schlitten zu klettern. Leider hinderte mich mein Bauch daran, die letzte Stufe des Schlittens zu erkennen und stürzte an diesem Tag ein weiteres Mal. Hinkend und schimpfend ging ich die paar Meter zum Eingang des Korvanturi und stieß die Tür auf. Ich staunte nicht schlecht. Im Innern war es hell und bunt. Lauter Wichtel, die finnischen Tonttus, liefen emsig hin und her, werkelten, strickten, lasen Post, verpackten und buken. Es war ein heiteres Stimmengewirr rundherum. Als sie mich erblickten, wurde ich von ihnen herzlich begrüßt und ich erfuhr von 251 Tonttusmännern und -frauen ihre Namen. Sie erzählten mir, dass sie in dem Dorf, das im Tal lag, wohnten und ihre Kinder dort von den Oma- und Opatonttus beaufsichtigt wurden.
Ich lebte fortan in einer Hütte im Berg neben der Weihnachts-Werkstatt und wurde auf meine Rolle als Joulupukki vorbereitet. Die Tonttus sind meine treuen Gehilfen. Sie werkeln das ganze Jahr über an den Geschenken, die ich an Heiligabend zur Bescherung den Kindern überbringe.
Innerhalb nur eines Jahres war ich zu einem stattlichen Joulupukki herangewachsen. Meine Kleidung war maßgeschneidert und auch die Hose passte über meinen dicken Bauch. Leider waren mir die Haupthaare komplett ausgefallen, es lag wohl am Sturz, aber mein Bart war dafür mächtig und prächtig gewachsen. Mein linkes Bein ist seit dem Fall vom Schlitten nicht mehr so beweglich und ich benutze beim Gehen einen Stock.
Heiligabend beginnt in Finnland um 12 Uhr und finnische Familien lieben es, am Nachmittag und Abend den Friedhof zu besuchen und zu schmücken. Auch der Gottesdienst wird fleißig besucht. Sie lieben ihre Bräuche und pflegen ihre Traditionen. Dazu gehört auch ein Besuch in der Sauna. Zum Abkühlen wird im zugefrorenen See ein Loch geschlagen und ins eisige Wasser gesprungen, einige ziehen es vor, sich im Schnee als Schneeengel abzukühlen. In Finnland liegt zu Weihnachten fast immer Schnee.
Danach wird traditionell Steckrüben-, Karotten- und Kartoffelauflauf mit einem Weihnachtsschinken, dem Joulupöytä, oder auch geräucherter Fisch gespeist. Der typische Weihnachtskuchen nennt sich Joulutorttu, ein köstliches Plundergebäck, das mit Pflaumenmus gefüllt und zu kleinen Windrädern geformt wird. Getrunken wird Kotikalja, ein selbstgebrautes Bier, Wein, der aus Beeren hergestellt wird, einheimischer Wodka oder Glögi, ein Glühwein, der auch ohne Alkohol getrunken wird. Die nichtalkoholischen Getränke sind Säfte aus Obst oder Beeren, Wasser, Milch oder hellgerösteter Filterkaffee und Tee. Der Weihnachtsbaum ist eine Fichte, die selbst geschlagen wird und mit selbstgebasteltem Schmuck behangen wird. Im Vordergrund des Feierns steht die gemeinsame Zeit mit der Familie und Freunden.
An Heiligabend verziere ich meinen Mantel mit einem blauen Band. Meine Rentiere bringen mich auf dem Schlitten von Haus zu Haus. Die Hauseingänge und Auffahrten sind mit Fackeln, Eislichtern oder Schneelaternen bestückt. Ich klopfe an die jeweilige Tür und frage: *„Onkos täällä kilttejä lapsia?" Sobald mir geöffnet wird, rufe ich: „**Hauskaa Joulua“ und blicke in fröhliche Gesichter. Ich betrete mit meinem riesigen Geschenkesack lichtergeschmückte Wohnzimmer. Die Kinder stehen dann andächtig vor mir und sagen ein Gedicht auf oder singen ein ***Weihnachtslied.
Ich sehe aber auch einsame, traurige Menschen und dann wird mir das Herz ganz schwer. Ich schickte ihnen einen Zauberregen mit Hoffnung. Natürlich bekommen sie auch Geschenke. Dafür stricken meine Tonttus warme Kleidung, wie Pullover, Socken und Schals. Es gibt auch Schokolade, Schinken und Brot. In der Weihnachtsbackstube werden viele Leckereien hergestellt, so auch Joulutorttu, Brot und Marzipanherzen.
Vor etwa drei Jahren wurde ich melancholisch. Es gab keinen Auslöser. Mir war nicht klar, warum so viel Traurigkeit in mein Herz gezogen war. Die Tonttus versuchten auf alle erdenkliche Art, mich fröhlich zu stimmen. Sie zogen sogar albern an meinem Bart und kitzelten meinen Bauch, aber ich konnte selbst dann nicht richtig lachen. Rudolph und seine acht Freunde reisten mit mir an wunderschöne Orte, um mich auf gute Gedanken zu bringen. Um mich zu betäuben, trank ich manchmal einen Wodka, den ich in meiner Weihnachts-Schnapsbrennerei brannte. Aus dem einen wurden schnell mehr. Der Kater danach machte alles noch schlimmer und ich schleppte mich am Gehstock torkelnd durch den Alltag. Auch die Kinder bemerkten an Heiligabend, dass ihr Joulupukki traurig und anders geworden war. Ihre Augen blickten mich dann besorgt und fragend an. Der Tonttus-Doktor meinte schließlich: „Joulupukki, du hast eine Depression und bist auf dem besten Weg, Alkoholiker zu werden. Ich glaube, dir fehlt eine Frau an deiner Seite. Schau dich um in der Welt. Sicherlich wirst du eine liebe finden. Wenn du nichts tust, stürzt du dich ins Verderben.“
„Ja, ja“, meinte ich dann nur. Welche Frau sollte mich, den Joulupukki schon heiraten wollen? Vor achtzehn Monaten geschah ein Wunder. Rudolph und seine acht Freunde flogen, ohne mich zu unterrichten, davon. Ich machte mir große Sorgen, denn es war nicht ihre Art, mich im Ungewissen zurückzulassen. Als sie zurückkamen, erblickte ich auf ihrem Schlitten eine kleine Joulupukkine, gerade mal 60 cm groß. Sie trug ein warmes Weihnachtskleid mit Pelzbesatz. Rudolph erzählte, er habe sie, auf einer Eisscholle sitzend, gefunden. Woher Rudolph den Tipp hatte, verriet er mir nicht. Seine Nase wurde, wenn ich fragte, nur noch röter als sonst. Joulupukkine erzählt, dass sie ihre Herkunft nicht kennen würde. Ihre erste Erinnerung sei die Eisscholle und die Rentiere mit dem Schlitten.
Nach nur einem Jahr war Joulupukkine zu einer bezaubernden Frau herangewachsen. Wir verliebten uns unsterblich ineinander. Sie ist jetzt meine Joulumuori. Sie kann ganz wunderbar backen und backt zusammen mit den Tonttusfrauen in der Weihnachtsbäckerei, kümmert sich um die Rentiere hilft mir bei der Vorbereitung der Geschenke. Die Tonttus lieben sie. Ich bin jetzt ein glücklicher Joulupukki, der an Heiligabend Freude und Wärme ausstrahlt.
*Gibt es hier artige Kinder?
**Frohe Weihnachten
*** Finnische Weihnachtslieder
© Sigrun Al-Badri/ 21.12.2022