2000
 Inhalt 
2001 

2000/01

Dokumentation zum Thema Behinderung

von  Terminator

Mir war noch lange nach dem Abitur, ja selbst nach der Asperger-Diagnose mit 33 (2016) nicht bewusst, wie sehr mein Autismus, und vor allem der Umgang der anderen damit, meine Schulzeit geprägt hat. Es gab ja dieses abscheulich-abominable, scheußlich-widerwärtige, abartig-widerliche Stottern. Ich nahm diesen Sprachfehler so wahr, dass er mir meine Menschenwürde nahm und mich in eine Zwangskarikatur eines Volltrottels verwandelte. Nun hatte ich aber in Amsterdam im Juni 2000 einen 10-Tage-Kurs im Del Ferro Institut mitgemacht, und mit dem Schulwechsel im August mich auf ein Leben ohne Stottern eingestellt. Ich meldete mich oft im Untericht, sprach stotterfrei, fand Freunde. Doch die übereifrigen Atemübungen verschlimmerten eine Erkältung Ende September zu einer dreiwöchigen Halsentzündung (etwas, das ich nie vorher hatte), und als ich wieder mit den Übungen anfangen konnte, merkte ich, dass ich aus dem Takt war.


Ich saß in der Falle. Die Sicherheit des Anfangs war weg, und ich hatte Angst, zu stottern. Aber alle merkten, dass ich auf einmal nichts mehr sagte. Ich kam den Lehrern unvorbereitet und sogar faul vor. Das führte zu noch mehr Druck, unter dem das richtige Atmen schwerer fiel, und als ich zum ersten Mal in der neuen Schule im Unterricht stotterte, verstummte ich und verschloss mich. Die Noten fielen in den Keller wie die Leistungen von Bayer Leverkusen, wo als Notlösung Berti Vogts als Trainer geholt wurde. Ich hatte keine Notlösung. Ich hatte den Anfang des Schuljahrs unbeschwert wie Ebbe Sand und Emil Mpenza im Sturm genommen, und fiel nun jäh in den Keller. Das Schicksal, das Schalke zum Abschluss von 2000/01 erwartete, zeigte, dass Leverkusen und ich keineswegs die ärmsten Schweine auf der Welt waren. Aber das Leid der anderen erzeugte nur noch mehr Druck: ich hatte Schuldgefühle, weil es immer noch Menschen gab, denen es schlechter ging als mir, und weil es Menschen gab, denen es in der Weltgeschichte schlechter ergangen war. Das Stottern war Scheiße, es hatte mir den Schulwechsel versaut. Doch wo war der Autismus?


Der Autismus äußerte sich in täglichen Lichtempfindlichkeitskopfschmerzen, gegen die ich keine Schmerzmittel nahm, um nicht medikamentensüchtig zu werden. Die Schmerzen waren quälend, aber ich wusste, dass sie morgen wiederkommen. Ich konnte die tägliche Paracetamol- (half nicht) Aspirin (half auch nicht) Dolviran- (half komischerweise) -Dröhnung meinem noch jungem Körper nicht antun. Der Schmerz ging über Stunden, ich improvisierte zu Hause mit Druckverbänden, als die Schule vorbei war, Jogging und Radfahren linderten den Schmerz nicht wirklich, lenkten aber ab. Und auch die sozialen Auswirkungen des Aspeger-Syndroms ließen mich nicht im Stich.


Ich hatte schnell einen netten Freundeskreis evangelikaler Christen gefunden. Wir trafen uns manchmal nach der Schule, alles lief so rund wie nie, nur weil ich (für eine kurze Zeit) nicht mehr stotterte, und die Mitmenschen erleben konnten, dass ich kein Monster bin. Ich wirkte nur aus der Entfernung wie eins: extrem introvertiert, arrogant wirkend, unnahbar, und immer allein. Damit war nun Schluss. Bis dies geschah: Ein Mädchen aus dem evangelikalen Gebetskreis hatte sich von ihrem "Freund" getrennt und gab mir Signale, die jedem anderen Jungen verständlich sein mussten. Es gab schnell dicke Luft, als mein Interesse an ihr nicht aufkam, aber ich ignorierte sie nicht vorsätzlich, sondern konnte ihre nonverbalen Signale einfach nicht lesen. Und da ich ohnehin schon in diese blonde niedliche Bianca aus der 9 verknallt war, war mein Interesse an anderen Mädchen erstmal erloschen. Der Alpha der Gruppe zeigte mir immer offener seine Enttäuschung und machte mir aufgrund meines Verhaltens Vorwürfe in Form von Allgemeinplätzen. Konkrete Hinweise darauf, was ich denn falsch machte, wären Gold wert gewesen; mit Andeutungen konnte ich nichts anfangen. Die anderen Sorgen, die ich gerade hatte, waren ihm nicht im Geringsten bewusst. Und so war ich bereits Anfang 2001 wieder ein einsamer Wolf, und sollte als der, der immer allein ist, von nun an zu einer Legende werden: eine Legende der Einsamkeit.


Der Winter war hart und hoffnungslos, ich radikalisierte mich in meiner Christlichkeit weit über jedes evangelikale Maß hinaus, aber ich hatte bis Ende 2000 schon alle christlichen Gemeinschaften abgecheckt, und fand nur lauwarme Menschen, deren Leid banal und existentiell unbedeutend war. Ich fand nur in der Literatur und in Filmen Menschen, die einen ähnlichen Leidensdruck hatten wie ich selbst. Ende März 2001 schrieb ich einen Thesen-Essay mit dem Titel "Wahrheit", in dem ich meine Gedanken über Gut und Böse und Gott und die Welt ohne Rücksicht auf christliche Glaubenssätze verarbeitete. Ende Juni 2001 war ich Atheist.


Im Musikunterricht, wovon ein Teil beim Singen im Kirchenchor stattfand, bekam ich als einziger eine schlechte Note. Ich sang nicht schlechter als die schlechtesten 50% der Klasse, ich hielt genauso zur rechten Zeit den Mund auf und zu, aber mein leidender Gesichtsausdruck veranlasste die Lehrerin wohl zum Urteil, ich hätte nicht so richtig mitgesungen. Auch Schüler aus anderen Klassen waren in dieser Kirche, auch Bianca. Ihr Anblick war das einzig Positive, was mir Ende 2000 überhaupt noch blieb. Im zweiten Halbjahr verstummte ich mündlich vollends, die schriftlichen Arbeiten wurden auch immer schlechter. Ich verließ oft unentschuldigt den Unterricht, was manchmal, wenn es nicht zu oft war, auch keine Probleme verursachte. In der inneren Emigration angekommen, fühlte ich mich nur noch auf dem Fahrrad (während des Unterrichts und dann unmittelbar nach der Schule) einigermaßen geborgen. Doch die Verzweiflung holte mich letztlich ein. Ich konnte mir nicht mehr vorstellen, wie ich noch weiter leben sollte. Dabei war mir durchaus zu helfen: ich war nicht hoffnungslos verbittert, nicht hasserfüllt, nicht amokplanend, sondern immer noch derselbe objektiv sympathische Mensch wie im September 2000.


Je schlechter es mir aber ging, umso höher wuchs die Wand aus Unverständnis und Schuldgefühlmacherei. Die Mitmenschen sagten mir ohne Worte: "Du bist undankbar und selbstsüchtig. Wir verurteilen deine Suizidgedanken in aller Schärfe. Wie kannst du so egoistisch sein!?" Alle Autoritätspersonen ohne Ausnahme griffen zum guilting und gaslighting, drohten mit Strafmaßnahmen, verlangten eine Verhaltensänderung. "Du musst auf die anderen zugehen!", war der für einen Autisten grausame und zynische Ratschlag. Für einen Teenager, der nicht wusste, dass er Autist war, war das der Weg in die psychische Krankheit: ich tat alles in meiner Macht stehende, um den anderen entgegenzukommen, und wurde beschämt und beschuldigt, und erst als ich die Erwartungen nicht mehr erfüllen wollte, sondern nun dazu stand, "Loser", "Versager" und "Psychopath" zu sein, fühlte ich mich etwas wohler, weil eine unerträgliche kognitive Dissonanz aufgelöst wurde.


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Kommentare zu diesem Text


 Regina (28.12.22, 01:59)
Durch diesen Erfahrungsbericht kann ich mir die Situationen realistisch vorstellen.

 Terminator meinte dazu am 28.12.22 um 02:31:
Ich erinnere mich so klar, als wäre es gestern gewesen. Aber die Erinnerung ist nicht mehr (wie noch vor 10 Jahren) negativ emotional gefärbt. Ich habe beim Schreiben fast gelacht, und keineswegs sarkastisch.

 Verlo (28.12.22, 18:57)
Terminator, kannst du deinen Lebensunterhalt verdienen?

Falls ja, was machst du beruflich?

Kannst du allein einen Haushalt führen, sprich: allein, ohne Betreuung leben?

Befindest du dich in verschiedenen Welten, wenn du solche, für jeden verständliche Texte schreibst, und wenn du "normale" Terminator-Texte verfaßt und dich mit zB lunaren Männern und solaren Frauen analysierst?  

Ich wünsche dir ein gutes 2023!

 Terminator antwortete darauf am 28.12.22 um 20:11:
Terminator, kannst du deinen Lebensunterhalt verdienen?

Falls ja, was machst du beruflich?
Ja, ich verdiene ganz gut, seit 3 Jahren in der Pflege. In den ersten Monaten war das eine massive Reizüberflutung, ich war an der Grenze zum Burnout, aber zog es durch, und habe es nicht bereut. Als freiberuflicher Lektor habe ich vorher weniger verdient und musste intellektuelle Drecksarbeit machen, die die Aufmerksamkeitskapazitäten für Wichtigeres blockierte.

 Verlo (28.12.22, 19:25)
Terminator, schließt du dich der ärztlichen Meinung an oder schätzt du dich anders ein? (Weil man zB die Zeichen anderer schwer versteht, muß man kein Autist sein. Oder zB wenn man lieber allein ist, ist man kein "Monster".)

Hast du Rituale? (Rituale an sich, zB Lichtschalter oder Türklinken mehrmals betätigen, sind kein "Beweis" für Autismus.)

 Terminator schrieb daraufhin am 28.12.22 um 20:13:
"Rituale" sind Zwangsstörungen. Diese sind bei Autisten deutlich überrepräsentiert. Ich hatte im frühen Teenageralter schwere Zwangsstörungen; im beschriebenen Zeitraum, mit 17, nicht mehr (nur noch Zwangsgedanken). Heute alles im grünen Bereich, habe mich selbst geheilt.

 Verlo äußerte darauf am 29.12.22 um 11:11:
Also hast du dir Autismus und Asperger selbst diagnostiziert, um eine Erklärung, Entschuldigung zu finden?

 Dieter Wal ergänzte dazu am 30.12.22 um 00:19:
Terminator wurde professionell diagnostiziert.

 Terminator meinte dazu am 30.12.22 um 00:38:
Entschuldigung
Wofür?

 Verlo meinte dazu am 30.12.22 um 00:46:
Weiß ich nicht.

Manchmal ist es weniger schmerzlich, krank zu sein, als unangenehme Geschehnisse zu akzeptieren. 

Und man braucht eine Erklärung: da kann eine Krankheit, erst recht eine seltene, "besser" sein als die Folge unangenehmer Geschehnisse.

 Terminator meinte dazu am 30.12.22 um 02:49:
Auch mit einer Behinderung muss man "unangenehme Geschehnisse akzeptieren", wo ist der Unterschied?

Für mich war der Unterschied darin, wie ich mir erklärte, anders zu sein; ich wusste ja, dass alle intuitiv merkten, dass "etwas mit mir nicht stimmt", aber wusste nicht, was das war.

Damals sponn ich mir die wildesten Verschwörungstheorien zusammen, die aus christlich-okkultem Gedankengut bestanden, allgemeine Paranoia war im Spiel, schizophren anmutender Verfolgungwahn. Den Gedanken, in einer "verkehrten Welt" zu leben, in der meine Handlungen genau das Gegenteil dessen bewirkten, was sie in einer "normalen" Welt bewirken würden, hatte ich schon als Kind.

 Verlo meinte dazu am 30.12.22 um 05:28:
Der Unterschied würde der geringer Schmerz sein.

Eine "gottgegebene" Behinderung ist leichter zu akzeptieren als eine durch ein Trauma.

 Terminator meinte dazu am 30.12.22 um 05:35:
Mir ging es um die Wahrheit, nicht um die erträglichste Erklärung. 2009 hatte den ersten Verdacht, Asperger zu haben, unternahm aber nichts, da ich schon 26 war. Ich dachte: jetzt ist egal. Hätte ich das in meiner Schulzeit gewusst, hätte es mir geholfen. Aber jetzt, nun, ich bin vielleicht Autist, na und, interessiert mich nicht. Jahre später wollte ich die Gewissheit haben, ob ich Asperger habe oder nicht, und habe 2016 an der Charité in Berlin die Diagnose bekommen. Ich hätte sie lieber 1996 bekommen, wenn schon eine ""gottgegebene" Behinderung" hat sein sollen.

 Verlo meinte dazu am 30.12.22 um 06:26:
Terminator, was hat dich so aufgeschreckt? Trauma?

 Terminator meinte dazu am 30.12.22 um 06:56:
aufgeschreckt?
Autismus ist angeboren.
Trauma?
Die Erfahrungen, die man in dieser Gesellschaft (und wahrscheinlich in den meisten anderen) als Autist macht, sind durchaus ein Trauma.

 Graeculus (29.12.22, 11:17)
Extrem hart. Zum Glück bewältigt ... oder erträglich gemacht.

 Terminator meinte dazu am 29.12.22 um 21:28:
Das war nur der Weg in die Hölle; die 7 Jahre dort (2001-2008) wären, wenn erzählt, von narrativer Langeweile geprägt, weil ein Schwarz in Schwarz.

(Die unausgegorenen, 2011/12 geschriebenen Berichte 2000-2011 sind der Vollständigkeit halber eingefügt).
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