18.9.2012

Absurdes Theaterstück zum Thema Reisen

von  Terminator


Ein asketischer Mann ist der größte Feind seiner Selbst. Selbstkasteiung ist Selbstzweck. Der asketische Mann ist die Reaktion des solaren Subjekts auf den ontologischen Dualismus der Realität: von Savonarola über Luther, Descartes, Kant, Schopenhauer und Nietzsche zu Cioran zieht sich seine neuzeitliche Geistesgeschichte. Der heroische Mann ist der alte Grieche, Römer, der Mann der Renaissance. Der apollinische Mann ist ein welthistorischer Ausnahmefall, vielleicht in Persönlichkeiten wie Laotse und Zhuangzi verwirklicht, vielleicht idealisiere ich die alten Taoisten damit über Gebühr. Kein westlicher apollinischer Mann ist mir bisher bekannt, aber das ist mein Versäumnis: ich war nie ein Biographienleser.


Von 2007 bis 2022 war ich ein asketischer Mann. Das Heroische zu verlassen, war ein großes Opfer. Es war schwerer als ein Suizid mit 18, 19, 20, 21, 22, 23. Der heroische Mann steht positiv zu sich selbst, und leidet nur an äußeren Umständen, und leidet nicht, sobald diese äußeren Umstände überwunden sind. Der asketische Mann leidet an der Zerrissenheit der Welt, an ihren Widersprüchen; das ist kein romantischer, bloß emotionaler Weltschmerz. Das Leiden des asketischen Mannes durchdringt nicht nur die Seele, sondern auch den Geist. Und so sollte es noch zehn Jahre lang weitergehen. Ich war für diese Reise nach Heidelberg also nicht bereit. Aber andererseits war ich 29. Wann, wenn nicht jetzt, den anderen Teil meiner zehndimensionalen Kugel finden?


Ich war ein Eremit unter Menschen, ein Wilder in der Großstadt, trug Jacken, die mir zwei Nummern zu groß und abgetragen waren, nicht aus Coolness, sondern aus Autismus. Ich war weltfremd und menschenscheu. Für mich gab es Kant und Hegel, und alles andere war zum Lachen, zum Dekonstruieren. Ich lebte in innerer Emigration, in Traumwelten, und blieb in dieser Welt nur am Leben, um die absolute Wahrheit der philosophischen Erkenntnis zu erreichen. Und säße ich am Morgen des 18.9.2012 im Zug nach Heidelberg, führe am Nachmittag nach Sandhausen, käme zum vereinbarten Treffpunkt: was hätte ich mit ihr zu besprechen?


Ich dachte damals, sie verloren zu haben. Doch sie hat sich selbst in eine höhere Welt gerettet, und mich somit auch, und zwar vor der Selbstzufriedenheit als asketischer Mann, vor Jesus und Kant. Ich war süchtig nach den als Belohnung für das perfekte moralische Leben aus Pflicht vorgesehenen Objekten sinnlicher Begierde. Im unglücklichen Bewusstsein gefangen, das mit Glückseligkeit als einer existentiellen Asymptote lockte, wollte ich moralisch fehlerfrei zu Ende leben und in die wohlverdiente Glückseligkeit hineinsterben. Je größer die Entsagung, umso stärker die Gebundenheit an den jenseitigen Lohn des Leidens: alles wie im Christentum. Alles am Leben vorbei.


Leben ist Wachstum. Jesus und Kant bedeuten Beschneidung: Jesus für die Seele, Kant für den Geist. Doch auf einmal hieß es nicht mehr kategorischer Imperativ, sondern Kirschblüte, nicht das sinnlich perfekteste vorstellbare Mädchen, sondern der konkrete Geist eines unendlich liebenswerten Mädchens; dieser Geist zerstörte das kantianische Luftschloss, ich war wieder heimatlos, so wie ich als heroischer Mann vor 2007 war, vor Kant und Hegel. Der heroische Mann ist ein Nomande, der asketische begeht die Sünde der geistigen Sesshaftigkeit, weil ein Leben ohne Halt in der Negativität unerträglich ist. Vollendet sich der heroische Mann in einer Heldentat, so muss der asketische Mann einen Weg gehen, darf nicht stehen bleiben, und auch nicht wissen, wann dieser Weg zu Ende ist. Die Ankunft im geistigen Zuhause geschieht auf Wunsch des ewigen blauen Himmels und die Sonne begrüßt den neuen apollinischen Mann unvorbereitet. Die Glückseligkeit kommt wie ein Dieb in der Nacht, nicht wie eine jenseitige Auszahlung eines im Diesseits moralisch erwirtschafteten Betrags.


Also Heidelberg, 18.9.2012, 18:45. Am Abend zuvor, um 21:00 tauschen wir die letzten Nachrichten aus, verabreden uns. Sie sieht unglücklch aus, hat nicht geschlafen. Jemand wie sie bekommt wenig Schlaf in einer Welt wie dieser. Sie ist zweifellos INFP-T, erlebte als Teenager die trostlosen konsumistischen Nullerjahre, eine Zeit, die ihr nirgendwo auf der Welt etwas zu bieten hätte. Auch in Heidelberg nicht. Vielleicht hat es geregnet. Ihr schwarzes Haar ist jedenfalls nass. Sie ist müde und zittert. Ich versuche, witzig zu sein, doch wirke wie ein Idiot. Sie will mir nicht zu nahe treten und versteckt sich hinter Allgemeinplätzen. Ich will eine echte geistige Verbindung herstellen, kann mich aber nicht dazu überwinden, meinen emotionalen Schutzschild fallen zu lassen. Schon bald fühlt sie sich unwohl und will gehen. Ich versuche, ihr eine Versicherung abzutrotzen, dass es nicht an mir liegt, weil ich weiß, dass dem so ist. Wir verabschieden uns wie nach einem banalen Date, das nicht funktioniert hat, obwohl wir uns trafen, um nichts weniger als den engsten Seelenverwandten zu treffen.


Ein Glück, dass es nicht so kam. Ich bekam genau eine Nachricht von ihr, Ende August, und dann keine mehr. Und selbst diese war nicht durch ihre Hand geschrieben. Ich ging noch zehn Jahre meinen asketischen Weg zu Ende, bis der ewige blaue Himmel der Sonne seinen Wunsch mitteilte, mich im Club der Apollinischen zu begrüßen. Ich habe nichts weniger als das Spiel des Lebens gewonnen. Ich habe das wahre Ziel meines Lebens erreicht. Und erst dadurch bin ich überhaupt bereit, vor ihr zu stehen, sie unverfälscht anzulächeln. Erst jetzt kann meine innere Schönheit nach außen erstrahlen. Meine Persephone der Nacht hat mich wahrhaft als Selbstzweck behandelt: sie wollte nicht den asketischen Lastenesel, der bestimmt alles für sie getan hätte, sie wollte mich verwirklicht und vollendet sehen. Ich habe ihren Verlust in der Zeit nicht zum Anlass genommen, fortan in alle Ewigkeit rumzutrauern, sondern habe mich auf den Weg gemacht. Wenn du mich wirklich liebst, wusste sie, dann willst du mich als Wirklicher lieben, nicht als Werdender, Leidender, Hoffender, Zweifelnder. Ich will, flüsterte sie mir, nicht deine Angst und Hoffnung, was dasselbe ist, sondern deine Gewissheit sein.


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