Nicht gut!
Brief zum Thema Abschied
von Mondscheinsonate
Lieber R.,
Dein Tod verstellte mir die Sicht. So viele Geschichten habe ich immer im Kopf, das bewunderte schon Frau Lehrerin S. in der Grundschule, ich hörte ein Wort und konnte darüber einen ganzen Aufsatz schreiben, es sprudelte heraus, aber jetzt stehst du davor, ja, das nennt sich Trauer, ist mir schon klar, aber, mir ist unklar, wieso es mich so getroffen hat, schließlich habe ich dich ein halbes Leben nicht mehr gesehen und ja, ich kam schon zu dem Schluss, dass es Liebe und Dankbarkeit sind, die mich bei deinem Grab stehen lässt, dennoch, es irritiert mich, dass es mich mehr traf, als irgendwas in meinem Leben zuvor.
Obwohl, ich bin gar nicht mehr traurig, weine nicht mehr, habe es zur Kenntnis genommen, angenommen, dass du nicht mehr da bist, dennoch es ist unangenehm, das ist das richtige Wort, äußerst unangenehm, es blockiert mich total. Oft versuche ich angestrengt über irgendetwas nachzudenken, etwas ganz anderes, und es kommt einfach nichts, auch habe ich zu nichts Lust, weder zur Arbeitssuche, noch zum Lernen und beides ist derartig wichtig, dass mich das wieder runterzieht. Bin ich in einer depressiven Verstimmung gelandet, fühlt sich das so an? Ich weiß es nicht.
Ja, das ist unser Gesundheitssystem, der Arzt sagte mir, wenn es nicht akut ist, dann beträgt die Wartezeit auf einen Psychologen auf Krankenschein ein dreiviertel Jahr, selbst zahlen, das geht schon. Nein, ich bin okay, nur geistig gelähmt, ich lache, ich halte meine Wohnung sauber, achte auf meine Katzen, kümmere mich um meine Nichte, halte, wie sonst auch, meinen Rest der Familie nicht aus, erfreue mich an der Vogelschar im Garten, alles wie immer, nur kann ich nicht denken, nichts anderes, immer wieder fällst du mir ein.
Wir hätten uns ausreden sollen, wir hätten miteinander reden müssen, genau über alles, von A bis Z, wir hätten die ganze Nacht sitzen sollen, Wein trinken und dann zufrieden voneinander gehen sollen, das wäre schön gewesen und ich hätte im Zuhören gehört, was wirklich dein Part in mir ist, denn ich sitze hier und habe das Gefühl, dass ich ganz du bin, immer schon, dass es mir erst jetzt bewusst wurde, ja, bis auf mein Äußeres habe ich nichts von meiner Familie, meine Worte, mein Denken, mein Handeln, meine Lebensweise, alles ist von dir, ja, das ist mein Gefühl, es erschreckt mich, ist aber sowieso logisch erklärbar, du warst der Leader meiner Peer-Group, wichtig, am wichtigsten Punkt meiner geistigen Entwicklung permanent am bohren in meinem Sein, in meinem Erwachsenwerden. Macht das Sinn, was ich denke? Ich glaube schon. Aber, ich hätte dich jetzt gerne da oder eben vor zwei Jahren, bevor du krank wurdest, noch einmal ein längeres Gespräch mit dir geführt, um ganz sicher zu sein.
Ja, ich habe das Gefühl, dass ein Teil meiner selbst gestorben ist, aber, um anders zu denken, könnte ich es so sehen: Du lebst in mir weiter, vielleicht besser. Ich werde so denken, dann raubt es mir nicht so sehr die Luft.
Du weißt, nein, woher denn, ich schreibe es dir, ich bin kein esoterischer Mensch, da kommt mir die Kotze hoch, aber rein vernünftig betrachtet, ist es wahr, du hast mich am meisten in meinem Leben geprägt, genau in der Pubertät, wo es am tiefsten prägt. Genau das war es. Das ist die Antwort.
Schau, auch mein Großvater ist in mir geblieben, das war vor dir, in der Pubertät kamst du. Dominante Männer, die ununterbrochen redeten, aber selten Wirres von sich gaben, mein Opa schon gar nie.
Mein Ex-Lebensgefährte hat auch nur geredet, viel Blödsinn, hat aber nie dumm geklungen, aufgesehen habe ich, ihn bewundert, weil er immer siegte, von der Werkstatt aufstieg zum Firmenboss, wow, was für ein Held - ha ha ha. Ich bewundete mein Leben lang schon, Opa, dich, ihn, aber ihn konnte ich nicht von ganzem Herzen lieben wie euch beide. Das irritierte mich und irgendwann nervte mich das Geschwafel nur noch, du hast mich niemals genervt. Keine Sekunde, bei dir fühlte ich mich leicht wie eine Feder, schwebte dahin. Du warst nicht konservativ. Schön war das.
Später schwafelte der B. permanent und ich war verzückt, bis ich hörte, was er schwafelte, viel später fand ich mein Gehirn wieder, das war ein unerträglicher Blödsinn, ungebildet, fremdenfeindlich, homophob, widerlichst und ich war die Verblödete, komplett verblödet, dass ich mir das gab. Ja, ich, Kasperl, vielleicht wollte ich einmal im Leben gescheiter sein, vermutlich.
Ich las vorhin ein Interview von 2002 von dir, es ging um einen Radweg: "So sagte S. frei heraus: "Wozu einen neuen Radweg, wenn es keine Sau interessiert..."" Ja, deine Stimme gedruckt in meinem Ohr. Beinhart ehrlich.
Ich möchte nur noch schlafen, von etwas anderem träumen, ehrlich, dich verdrängen, beiseite schieben, einfach weitermachen.
Du bist aber immer da. Du wirst auch da bleiben, weil ich jetzt definitiv weiß, dass du mich manipuliert hast, bewusst oder unbewusst, ich unterstelle dir nichts.
Ja, manche berühren uns nur kurz, dafür intensiv, was sind schon vier Jahre in 46?
Weißt du was, ich war so sicher, wirklich, dass die Mutter vor dir stirbt und du hättest mich angerufen und es mir gesagt. Ich habe mich darauf verlassen, dann hätte es besser geklungen. Ganz bestimmt. Dann hättest du mir geholfen, den Scheißdreck zu entfernen und ich wäre dann bei dir gesessen und wir hätten angestoßen auf unser Leben, schon traurig, aber deine Präsenz hätte mich beruhigt. Jetzt habe ich Angst.
Nein, nein, Egoismus mag ich nicht, du warst sehr krank und es war gut, dass du eingeschlafen bist für immer.
Jetzt hast du deine Ruhe und ich mache weiter, schiebe dich nicht zur Seite, sondern beginne einfach anzunehmen, was von dir in mir blieb.
Ein Versuch.
Schlaf gut!