Frühlingserwachen

Kurzgeschichte zum Thema Horror

von  Milta_Svartvis

1.


Sie kam mit dem ersten Grün des Jahres ins Dorf. In einer Kutsche und von den Weisesten der Gemeinde begleitet. Gezogen wurde die Kutsche von weißen Kühen, auf deren goldenen Hörnern das Licht der Mittagssonne glänzte. Die in weiße und rote Gewänder gekleideten Weisen lenkten die Kutsche zum Marktplatz. In dessen Mitte stand eine große Eibe, in deren Rinde bestimmte Zeichen geritzt waren, von denen es hieß, dass die Ahnen der Dorfbewohner sie einst aus einem Land am Rande der Welt in diese Gegend brachten. Einer der Weisen ging zur Eibe und nahm ein Horn, das von einem Ast hing und blies hinein. Genau neun mal schallte das brummende, tiefe Dröhnen durch das Dorf. Während die Menschen andächtig und gemessenen Schrittes aus den Häusern kamen, trat Sie aus der Kutsche. Weißes Leinen verhüllte ihren stämmigen, doch anmutigen Körper und ein langer  Schleier verhüllte ihr Gesicht. Unter freudigem Jubelgeschrei wurde sie von den Menschen empfangen. Die Frauen weinten vor Glück, und die Männer entboten ihrer Herrin Segens - und Willkommens Grüße. Die Weisen brachten sie zu einer langen Tafel unter freiem Himmel und setzten sie an den Kopf auf einen kunstvoll verzierten Stuhl. Die Kinder schenkten ihr mit ehrfürchtigen Gesichtern Körbe voller Blumen und Sie bekundete ihr Wohlwollen durch ein leichtes Nicken. Die Erwachsenen brachten ihr alle Arten von Geschenken dar; goldene Ringe und silberne und bronzene Gewandspangen, Edelsteine, hölzerne Figurinen und kleine Tafeln mit Dankesbotschaften, geritzt jenen Schriftzeichen, welche die Ahnen einst vom ersten Sänger erlernt hatten, den ihre uralte Überlieferung zu nennen wusste; Sie blieb fortwährend schweigsam und nur dann und wann flüsterte sie den Weisen etwas ins Ohr. Ansonsten machte sich das verhüllte heilige Wesen seinen Kindern gegenüber nur durch bestimmte subtile Gesten bemerkbar, welche die Weisen dem allgemeinen Volk in feierlichem Ton erklärte. Lieder wurden gesungen, gelacht und getanzt und über dem ganzen Dorf lag ein tiefer, heiliger Frieden, welcher die Körper und Seelen des Volkes mit neuer Kraft erfüllte. Vögel wurden von der ausgelassenen Stimmung der  Menschen angezogen und stimmten trällernd und pfeifend in die Lieder der Sangeskundigen mit ein. Doch machte sich mit  fortschreitender Stunde auch eine gewisse Unruhe und Spannung unter den Menschen breit. Es war klar, dass das Wohlwollen ihres Ehrengastes von den letzten beiden Geschenken abhing. Waren diese gut genug, konnte das Dorf mit einem Jahr des Wohlstandes und genug Nahrung für alle rechnen. Doch sollte Sie sie als minderwertig oder sogar als Beleidigung betrachten, stand dem Dorf eine schlimme Zeit bevor. So war es vor einigen Wintern gewesen, als die Ernte verdorrte und die Kühe und Schafe an einer Krankheit vergingen. Viele Bewohner waren in darauf verhungert. Seitdem sind die Weisen achtsamer bei der Auswahl der letzten Gaben. Mit einer Handgeste bedeutete Sie einem der Weisen, zu ihr zu kommen. Leise flüsterte sie ihm etwas ins Ohr, worauf er ins Horn blies und die ganze Gesellschaft andächtig verstummte. Laut und feierlich verkündete er der aufmerksam lauschenden Menge, dass die Zeit gekommen war, die letzten Opfer zu bringen. Zwei Wächter die vor einer kleinen, fensterlosen Hütte Wache hielten, zerrten nun zwei gefesselte junge Burschen heraus und trieben sie unter den Klängen zeremonieller Trommeln zum Kopf der Tafel. Währenddessen holte einer der Weisen einen Pinsel und eine Schale, gefüllt mit dem Blut eines Ochsen, und stellte sich neben Sie. Die Wächter zwangen die  jungen Männer auf die Knie und geboten ihnen, zu schweigen. Die Herrin stand auf und trat vor die beiden Burschen, welche im vorigen Sommer bei einem Konflikt mit Vertretern eines fern verwandten Volkes gefangen genommen worden waren.
Lange  musterte sie die kräftigen Körper, die kantigen Gesichter und die strahlenden Augen, die eine Mischung aus Todesverachtung, Mut und auch Furcht verrieten. Das tiefe Schweigen des Wesens ließ die Herzen der Anwesenden höher schlagen und die Spannung ins unerträgliche steigen. Schließlich nickte Sie dem Weisen an ihrer Seite zu. Dieser tauchte den Pinsel in das Ochsenblut und benetzte unter großem Jubel die Gesichter der beiden Männer.
Die Weisen verkündeten, dass Sie das Opfer annehme und dem Dorf ihre Huld gewähre. Sie sei vom Umgang mit ihnen satt und würde nun heimkehren. Unter lauten Lobgesängen stieg Sie zurück in die Kutsche, während die Wächter die gefesselten Männer dahinter anketteten. Wieder ertönte neun mal das Horn, bevor es zurück an den Ast der großen Eibe gehängt wurde und die Weisen, die Wächtern, die Opfer und das Wesen in der Kutsche das Dorf verliessen. 


2.


Die Sonne ging bereits unter und der Weg führte die Zeremonien-Gesellschaft auf einem wenig genutzten Pfad durch den düsteren Wald. An einem großen See blieben sie schließlich stehen. Zwei angeleinte Boote warteten am Ufer. Sie stieg aus der Kutsche und mit den Weisen in das erste Boot, während die Wächter mit den Opfern das zweite nahmen. Die beiden Burschen waren ruhig; sie teilten mit den Dörflern die gleichen Vorstellungen und Bräuche und auch ihre Sprache war fast die selbe wie die der Männer, die sie nun ihrem endgültigen Schicksal auslieferten. Sie kannten das Wesen im vorderen Boot, auch wenn ihr Stamm es unter einem anderen Namen verehrt hatte. Auch kannten sie die alten Geschichten, nach denen ihre Ahnen und auch die der Dorfbewohner vom ersten Menschen stammten, welcher aus der Verbindung des Himmels mit der in weiße Leinen gehüllten Gestalt entstanden war. Sie erinnerten sich an ähnliche Riten und an Kriegsgefangene und Frevler, die ihr Stamm dem Wesen dargebracht hatte. Sie wussten was kommt und es war ihr Schicksal, vorbestimmt von jenen, die allem Seienden am Anfang der Zeit ihre Ordnung verliehen hatten. Und darum beklagten sie sich nicht, als sie am anderen Ufer aus dem Boot ins Wasser stiegen. Das heilige Wesen stieg nun ebenfalls ins Wasser und streifte langsam das Gewand ab. Es entblößte einen makellosen, jungen Körper. Den Opfern wurde geheißen, das straffe weiße Fleisch des Wesens zu waschen. Unter den strengen Blicken der Wächter und Weisen ließen sie die Schwämme über den Leib streichen, um es vom Umgang mit den niederen Sterblichen zu reinigen. Nur der Kopf steckte noch unter dem Schleier. Eine Mischung aus Lust und Todesangst ergriff die beiden Männer. Um Selbstbeherrschung ringend vollzogen sie die sakrale Handlung. Dann waren sie fertig und wie instinktiv blickten sie gleichzeitig auf. Da lüftete die Göttin den Schleier und als die zur Opferung Auserwählten in ihre Augen sahen, erkannten sie. Ein unerträgliches Grauen packte ihr Innerstes und verwandelte sie von starken, tapferen Kriegern in verängstigte kleine Kinder. Ja... Sie waren die Kinder der Erde, einer Erde, die schon alt war als die ersten aus Mannuz' Geschlecht die Welt errichteten und die noch lange bestehen würde nachdem der letzte ihrer Art sein sinnloses Leben ausgehaucht hatte. Alles Bestreben ihrer Rasse, einen Abdruck im Gewebe des Daseins zu hinterlassen, jede geschlagene Schlacht, alles mühen  und leiden war letztlich umsonst. Von ihnen würde nichts mehr übrig bleiben, sobald die Menschen aussterben würden. Denn niemand gedenkt der Menschheit außer den Menschen. Kein Nachruhm, keine Lieder, die ihnen zu Ehren gesungen wurden, ja, nicht einmal ein Dasein in Form eines Schattens im finsteren Schoß ihrer aller Mutter war zu erwarten; denn was scherte sich die Erde um richtig oder falsch, um Moral und Strafe? Alles was lebte war nur Ausdruck der Existenz um des Ausdrucks willen. Und nur eine falsche Illusion von Recht und Ordnung bewahrte die zahllosen Nachfahren des Ingwaz davor, sich gegenseitig abzuschlachten und ihre selbst geschaffene Welt ins Chaos zu stürzen. Und genau diese Erkenntnis war es, die nun die Köpfe der beiden Erwählten mit einer Vision des Unheils füllte. Denn die klar zu Ende gedachte Konsequenz der Offenbarung ließ für sie nur einen mögliches Ende zu. Vor ihren geistigen Augen sahen sie die Zukunft, bizarr und fern aller Vertrautheit, in der die Menschen sämtlichen Gesetzen entsagten und ihre brennende Welt in ein Meer aus Blut tauchten. Diese Weitsicht offenbarte ein kaltes, nüchternes Schicksal, kalkuliert von Mächten jenseits aller Götter. Nichts war wirklich heilig. Nichts hatte Bedeutung. Nicht einmal das Schicksal selbst, welches nach kalten, deterministischen Instinkten handelte. Die Götter waren real. Doch waren auch sie nur die ohnmächtigen Agenten eines blinden, ihnen  gegenüber gleichgültigen Prinzips und letztlich genauso unfrei wie die kleinen, zweibeinigen Wesen, die sie in Hainen und Tempeln verehrten. Menschen, Götter, Naturgeister - sie alle waren nichts als bloße Ausdrucksformen einer Macht, deren Trieb zur Gestalt sich vor Urzeiten gegen den chaotischen Zustand des ursprünglichen Nichts entgegen stellte und dadurch ihren ersten Funken im gähnenden Schlund formloser Finsternis warf. Der Mensch war weder die Krone der Schöpfung, wie es spätere Generationen ausdrücken würden, noch war er in irgendeiner Art und Weise besonders; nur ein Spielzeug, eine von endlos vielen spaßigen  Maskierungen, die das Leben selbst sich zur reinen Belustigung aufsetzte, und die verschwanden, sobald es ihrer überdrüssig wurde. Und auch die Götter, Ahnen, Tiere, alle Pflanzen, das Meer, die Berge - all diese Dinge waren wie  Gewänder für eine form- und wesenlose Gewalt, deren einziger Wille es war, sich immer neue Kleider anzulegen. Krieg und Zerstörung, Liebe und Hass, Mord und Totschlag, Stammesrechte, Ordnung, und Treue und Hingabe zur eigenen Sippe - all das diente nur der Befriedigung eines ungeheuren Spieltriebs kosmischen Ausmaßes.

Die alles umfassende Erkenntnis und Absurdität des ganzen war für die Auserwählten zuviel. Der  menschliche Geist war nicht dafür gemacht, die eigene Bedeutungslosigkeit zu erfassen, geschweige denn zu akzeptieren. Vergeblich bargen sie die Gesichter in den Händen, als ihre Seelen unter der Last grausamer Gewissheit auseinander brachen.

 Sie schrien nicht lange. Ihre Köpfe wurden ruckartig zurückgezogen und die Hälse von kräftigen Dolchhieben durchbohrt. Gurgelnd und blutend standen die beiden zuckenden Leiber noch einen Moment im Wasser, bevor sie leblos nach vorne fielen. Ungerührt betrachtete das uralte  Geschöpf die beiden Körper, die auf der Oberfläche trieben und das Wasser rot färbten. Dann legte es den Schleier wieder über sein Gesicht und sah die beiden Weisen an. Schwer atmend standen sie bis zu den Knien im Wasser, den Blick voller Ehrfurcht von der Göttin abgewandt. Frisches Opferblut tropfte von den Klingen in ihren zitternden Händen. Die Wächter hatten sich ebenfalls abgewandt. Zu gefährlich war es, die Geheimnisse der Erde zu schauen. Schließlich drehten sich die Weisen um und stiegen wieder ins Boot. Dann warteten sie am anderen Ufer und lauschten. Sie hörten sanft plätschernde Geräusche, die immer leiser wurden, je weiter sich die Göttin entfernte. Kurz darauf war nichts mehr zu hören außer den gewöhnlichen Lauten des Waldes. Die Weisen wagten als erste, den Blick wieder zum See zu wenden. Die große Nerthuz war verschwunden. Zurück in ihr Reich am Grunde des Sees. Und an ihre Opfer erinnerte jetzt nur noch das Blut, dass nach und nach vom Wasser getilgt wurde.



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