Giorgio Agamben: Homo sacer

Politische Revue zum Thema Aggression

von  Terminator

Anfang 2013 im neu erbauten Grimm-Zentrum gelesen. Die Atmosphäre war creepy, die Stimmung gedrückt, doch das Büchlein leider nicht ausleihbar. Für wen diese schmalen Fenster dort sind, die weder praktisch noch ästhetisch sind noch sonst irgendetwas für das menschliche Empfinden Sinnvolles darstellen, fragte ich mich schon damals. Giorgio Agambens Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben gibt darauf eine Antwort.


Der moderne Staat betreibt eine Biopolitik, er ist strukturell totalitär und herrscht über alle Lebensbereiche. Der Alltagsmensch nimmt das als bemutternde Rundumversorgung wahr: nanny state. Erst wenn der Staat die als Freiheit verstandene großzügige Einhegung einschränkt, etwa in einer Virus-Pandemie, fällt das auch auf. Was für Erich Fromm die nach innen verlegten Ketten des modernen Sklaven sind, das ist für Giorgio Agamben das stukturelle Konzentrationslager, in dem die souveräne staatliche Macht über die Biomasse Mensch herrscht, verfassungsbasierte Volkssouveränität hin oder her.


Sensible Menschen können das KZ-Paradigma der Moderne am eigenen Leib spüren, erst recht Menschen, die anders sind. Für Michel Foucault war daher die strukturelle staatliche Gewalt ein großes Thema. Wenn die Kirche Homosexualität mit dem Tode bestrafen will, aber nicht selbst Teil eines technologisch hochentwickelten Überwachungsstaats ist, dann kann sie vor dem Fürsten hinterfotzigstenfalls einen Adligen, der ihm ohnehin Probleme macht, diffamieren, sodass der Fürst eine Entschuldigung hat, um seinen Rivalen hinzurichten. Gilt in einem modernen Staat Homosexualität als strafbar, so muss sich jeder jederzeit an jedem Ort fürchten, für eine Aktivität in der intimsten Ecke seiner Privatsphäre bestraft zu werden. In den letzten Jahrzehnten wurde die Überwachungs-, Manipulations-, und Umzäunungstechnik verbessert, sodass Lockerungen bei Eingriffen ins Privatleben stattfinden konnten.


Agamben äußerte sich gleich zu Beginn der Lockdown-Politik, und wurde von den Lakaien der souveränen Macht, den ins System eingebetteten Journalisten, erwartungsgemäß diffamiert. Es stellte sich bei der Corona-Politik selbst der freiesten Demokratien heraus, dass Freiheit kein Grundrecht ist, wie die Verfassungen behaupten, sondern ein großzügiges Zugeständnis, das jederzeit zurückgenommen werden kann. Natürlich darf die Gegenfrage erlaubt sein, wie sich denn überhaupt so große und so dicht gedrängte Menschenmassen anders regieren lassen: sie darf es, moralisch gesehen, jedoch nur, wenn sie offen, und nicht rhetorisch gestellt wird.


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Kommentare zu diesem Text


 Quoth (04.01.23, 12:50)
Agamben hat sich m.E. zu sehr mit Heidegger und Carl Schmitt vollgesogen. Er hätte, statt vor der angeblich bevorstehenden Corona-Diktatur zu warnen, sich mit den italienischen Neofaschisten befassen sollen. Gibt es ein Wort von ihm zur "Machtergreifung" von Frau Meloni? Der gestolperte "Meisterdenker" ist nichts als ein virtuoser Synkretist. Aber vielen Dank, dass Du mich auf ihn aufmerksam gemacht hast! Für solche Anregungen liebe ich kV (siehe meinen Kommentar zu meinen "Gedanken zum Jahreswechsel, in Tinte getaucht"). Gruß Quoth

 Terminator meinte dazu am 06.01.23 um 22:50:
Die Corona-Politik passt zu seinem Forschungsgebiet, da sah er ein Beispiel, an dem er sein Paradigma erläutern konnte. Als Rechtspopulismus-Experte ist Agamben mir nicht bekannt. Da müssten wir in die zweite Philosophenliga absteigen und Markus Gabriel zu Rate ziehen.

 Pensionstarifklempner (06.01.23, 23:29)
Leider halte ich die dargestellte  Anaslysemechanik für ein ideologisches Erklärungsmuster. 
Mein Erklärungsprinzip richtet sich nach dem Marxschen Kulturstufenmodell. In der gegenwärtigen Gesellschaft erleben wir neofeudalistische Beziehungsstrukturen. Jeder gesellschaftliche Blase eine eigene Grafschaft, selbst Eigentumsverhältnisse scheinen untergeordnet. Der wirtschaftliche Neoliberalismus führt in eine totale VER ICH UNG. VOM ICH ZUM WIR  UND ZURÜCK ( WAR der Titel eines Kabarettprogramm der Dresdner Herkuleskeule in den 80iger Jahren).
Aber vielleicht sind meine Überlegungen auch abwegig.

 Terminator antwortete darauf am 06.01.23 um 23:45:
Neofeudalismus ist auf der Ebene der Software unsere neue Wirklichkeit. Agamben, mir dünkt, beschreibt die Hardware der modernen/postmodernen Gesellschaft(en).

Der Film Ready Player One (2018) trifft es gut: es gibt die Basis-Realität, die eher Agambens Lager-Paradigma ähnelt, aber dort lebt keiner mehr, dort befindet man sich nur körperlich, lebt aber in der (neofeudalen) virtuellen Welt.

 Pensionstarifklempner schrieb daraufhin am 07.01.23 um 01:42:
Ja, auch eine mögliche Sichtweise. Den Vergleich mit der Software finde ich anregend. Dort erleben wir Beziehungsaufbau ( in sozialen. Medien) und Beziehungszerstörungen ( besonders perfide Form ist das Astroturfing). Umrahmt wird die ganze Komplexität von einer moralischen Orientierungslosigkeit, jeder ist seine eigene Leitlinie und so marschieren wir in eine "wunderbare" Anarchie. Das Beleidigtsein zeigt immer mehr Radikalisierungstendenzen.
Ansonsten wünsche ich ein schönes Wochenende
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