Die Fledermaus

Text zum Thema Abschied

von  Mondscheinsonate

Meine Füße baumelten auf dem unlackierten hohen Holztisch, sie fanden dort sitzend keinen Boden. Dieser war schwarz- weiß gesprenkelt, seitwärts gegenüber waren zwei Fenster, weit oben, die vergittert waren. Die Gitter waren grün. Auf der anderen Seite standen am Boden zwei große Waschmaschinen und ein Schleudergerät, bei der Tür ein Zähler, man musste Waschmünzen einwerfen, die waren aus einem glänzendem Metall und hatten in der Mitte eine Kerbe. Ein Nebenraum war zum Wäsche aufhängen. 

"Warst du schon einmal am Dachboden?" R. sah mich nicht an, während er sich bückte, um den Inhalt seines Wäschekorbs in die Trommel der großen Maschine zu stopfen.

"Nein, kann man da einfach rein?" antworte ich.

"Klar! Da gibt es Fledermäuse." 

Ich schwieg kurz, wusste nicht, ob ich das wirklich berauschend finden sollte. 

"Fledermäuse habe ich noch nie hier gesehen, du flunkerst (schwindelst, lügst)!" sagte ich.

"Na, dann gehen wir heute Nacht rauf." 

"Nein, ich hab schon was vor!" 

"Was denn?"

"Mit dir sitzen und plaudern."

"Nix da, wir gehen Fledermäuse schauen!" Er schloss die Waschmaschinentür, richtete sich auf, streckte sich, drehte sich zu mir, ging auf mich zu, küsste meine Stirn, lächelte, hob mich vom Tisch herunter und stellte mich auf meine Beine, sah mich von oben herab an und lächelte nochmals, sah mich liebevoll an, sagte: "Hosenscheißi!"

"Was heißt Hosenscheißi! Gut, gehen wir auf den Dachboden!"


Jetzt muss ich, Jahrzehnte später, gestehen, dass ich wirklich Angst hatte, aber außer einem Taubennest war da nichts zu sehen und ja, es gab Fledermäuse, ich sah sie selbst, eines Nachts, als ich das Fenster öffnete und gestehe, dass ich froh war, dass diese damals ausgeflogen waren, als wir mit der Taschenlampe durch eine vermoderte Dachkammer leuchteten. Aber, es ging gar nicht um die Fledermäuse, sondern um meine Hand, die ich in seine gab und er sie festhielt. Ich fühlte mich geborgen, sicher und wer in meinen Verhältnissen gelebt hat, jeder zweite oder dritte hat es, tatsächlich nicht rosig, mein Schicksal war kein einzelnes, der kann nachempfinden, was eine Hand in einer anderen bedeutet, wenn man Angst hat. 

"Hast du Angst?" fragte er.

"Nein."

Er drückte meine Hand fester.

Manchmal braucht man nicht die Wahrheit sagen, der andere spürt sie.


Es sind die kleinen Momente, das Küsschen auf die Stirn, die Hand, die beschützt, das Öffnen einer Tür, wenn man einsam ist, Schritte über einem, dass man weiß, da ist jemand da im Notfall und die Tränen um einen Menschen, die Liebe spüren lassen, die uns tief berühren. Besonders, wenn man weiß, sie kommen nicht wieder.

Schöne Momente kann man nicht verlangen. Hätte ich in der Waschküche gesagt: "Bitte, ein Küsschen auf meine Stirn!", dann wäre es nicht einmal annähernd so schön gewesen oder hätte ich mit Worten um die Hand verlangt, wäre es nicht so beruhigend gewesen. Es sind die stillen Momente, die freiwilligen Gesten die, die durch die Seele wandern. 

Ich liebte mehr, als ich es ahnte.

Ein Brauch: Wenn wer stirbt, muss man das Fenster öffnen, damit die Seele hinausfliegen kann, wie eine Fledermaus.


Ich halte inne, trinke meinen Kaffee und höre jetzt gar nichts mehr. 




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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (06.01.23, 14:47)
Es gibt berührende Passagen in diesem Abschiedstext, wie diese:

Manchmal braucht man nicht die Wahrheit sagen, der andere spürt sie.

Insgesamt wandelt diese R.-Serie auf einem schmalen Grat, nämlich zwischen sexuellem Mißbrauch einer Minderjährigen auf der einen und der häufigen Verwendung des Wortes "Liebe" auf der anderen Seite. Ich hätte nicht gedacht, daß man das so schreiben kann, ohne nach der einen oder der anderen Seite abzurutschen; aber hier gelingt es. Wie kompliziert unsere Seele ist!

 Mondscheinsonate meinte dazu am 06.01.23 um 14:51:
Differenzieren sei das "Davor" und der "Schluss". Letzteres war das Letzte und eröffnet Abgründe unserer Seele.

 Graeculus antwortete darauf am 06.01.23 um 15:04:
Die Fledermaus ist übrigens ein schönes Symbol für Ambivalenz.

 Mondscheinsonate schrieb daraufhin am 06.01.23 um 15:14:
Grauen und Faszination.

 Graeculus äußerte darauf am 06.01.23 um 15:17:
Dies beides und Fliegen: "damit die Seele hinausfliegen kann, wie eine Fledermaus."

 Mondscheinsonate ergänzte dazu am 06.01.23 um 18:11:
Der Titel sollte natürlich auch eine Anspielung auf das Lied in der Fledermaus von Strauss sein. "Glücklich ist, wer vergisst, was nicht zu ändern ist." Ich schrieb es heute auch schon Stelzie ins Kommentar.

 Graeculus meinte dazu am 06.01.23 um 18:29:
Und dann kann man noch eine Prise 'rheinischen Buddhismus' hinzugeben: "Wer weiß, wofür et joot is!"
Die Fledermaus ist natürlich poetischer.
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