Ein Brief vor der Klausur
Brief zum Thema Beziehung
von Mondscheinsonate
Lieber Verstorbene,
Ich schrieb jetzt schon zwei Tage nicht, da ich morgen eine Fachklausur habe, die Zulassung zur Fachprüfung/Diplomprüfung und da hatte ich keinen Kopf für dich frei, außerdem schreibe ich momentan lieber mit einem Lebenden, privat, das ist schön und gibt mir anregenden intellektuellen Input. Mich nervt diese Chatterei mit Freunden schon so, das ist wie telegrafieren, alles im Kurzstil.
Aber, jetzt mache ich 20 Minuten Pause und verbringe die Zeit mit dir.
Vorhin fiel mir ein, während ich über der Unterlassungsklage saß, plötzlich, aus dem Nichts, ein schönes Bild, dass früher belanglos schien, mir aber heute viel bedeutet, nämlich Leo, rauchend, lässig in Jeans, weißem Rollkragenpulli und brauner, gerader, nietenfreier Lederjacke, angelehnt an seinem Alfa Spider mit Plexiglasscheinwerfern, schnittiges Auto in weiß, und du stehst vor ihm und ihr spracht über den Lärm vor dem Lokal. Du, in Cordhose, weißem Hemd und dunkelblauen Pullover mit Rundausschnitt, dazu deine schwarze Lederjacke, ebenfalls nicht auffällig designt und deinen schwarzen Schuhen. Ich beobachtete euch beide, Leo sah mit seinen 25 Jahren weitaus älter als du aus, mit deinen 42. Allerdings, so gesehen, sah Leo mit 48, als er starb, noch genauso aus, wie mit 25, ein witziges Phänomen.
Ich beobachtete eben euch beide, das Bild brannte sich ein, du hattest, wie immer, deine Hände in den Hosentaschen, während du ruhig mit ihm sprachst. Leo sah ernst drein, du ebenfalls. In dem Moment war ich glücklich, ja, weil zwei Menschen auf einem Fleck standen, die ich gern hatte.
Die Personen auf dem Bild sind verstorben, es blieb trotzdem im Kopf.
Die Zärtlichkeit von damals fehlt mir sehr. Es gab, bis auf meine Mutter, keinen, der zu mir grausam gewesen wäre. Du, erst am Schluss. Das war überhaupt der Schlussakkord und ab da begann es ekelig zu werden, permanent, ständig, ununterbrochen. Ein neues Stück begann, ein komplett anderes, das nennt sich "Erwachsensein".
Leo erzählte mir, dass du, nach dem Vorfall mit dem Joker, dich bei ihm bedankt hast, weil seine erste Reaktion war, mich zu beschützen. Er erzählte mir auch, weil ich dir erzählte, dass Leo mir ständig etwas zu Essen kaufte, dass du ihm 100 Schilling gegeben hast, als Dankeschön. Mir hast du beides nicht erzählt. Leo wollte es nicht annehmen, es war ihm peinlich, mir auch, aber du sagtest, dass du das willst, das ist dir wichtig. Wie lieb du sein konntest! Leo sagte, dass du mich sehr lieb hast, definitiv, da sagte ich, dass er das aber selten zeigt, da sagte Leo, dass es aber so ist.
Leo gab mir die 100 Schilling und sagte: "Die gehören dir."
Auch durfte nur ich am Alfa lehnen, da lachte Leo, sagte: "Das steht dir. Boxenluder." Ich lachte.
Wir hatten viel Spaß, alle, auch du und ich.
Ja, das Erwachsenwerden kam dazwischen, das Ungezwungene ging verloren. Leo kündigte, Michael auch, ich ging nur noch in die Lokale, stand nicht mehr davor, die Jagd begann, man wurde zum Wild, aber ich drehte den Spieß um, ließ mich nicht jagen, wurde zur Jägerin, kokettierte und scheiterte daran. Gefallene Diana, so auch bei dir.
Dich reizen und sich wieder konservativ zurückziehen, ein Spiel mit einem Narzissten kann man nicht gewinnen.
Ich verlor auch, alles. Sogar mein Umfeld.
Deine Kraft wirkt nach, die des Löwen, so ich, wenn ich vor deinem Grab stehe, lese ich 100- mal deinen Namen, zieht er noch immer in den Bann und wenn ich, so wie gestern, nicht so weit entfernt war, hatte ich sogar Schuldgefühle, dass ich nicht bei dir war.
Egal, ich muss weiterlesen, die Lust hält sich in Grenzen. Wird schon schiefgehen und wenn nicht, dann Anfang Februar.
Schlaf gut.