Die Ameise

Text zum Thema Achtung/Missachtung

von  Mondscheinsonate

Irgendwann vergisst man, beinahe jeder, Einzelheiten aus seiner Kindheit und es bleiben doch die Schreckmomente, die uns, jenseits jedweder Erziehung, selbst erziehen, da bedarf es keiner mahnenden Worte, und diese Appelle an unser Gewissen, die durch Erfahrung geschehen, ja, passieren, sind so eindringlich, dass sie in der Erinnerung verankert bleiben. 

So auch bei mir, die Achtung vor der Flora und Fauna, denn als kleines Mädchen, ich war vier, die Zeit der ersten Erinnerungen, die blieben, saß ich alleine auf dem Balkon meiner Großmutter in Wimpassing. Meine Lieblingsbeschäftigung in dem Alter war das Aufsaugen von Informationen, das Beobachten und eigentlich das Totschlagen der langweiligen Zeit, denn mein Großvater war damals noch berufstätig, meine Großmutter "g'schafftig" (überall tätig, nie sitzend, auch die Hilfe in der Ordination) und Frau Teigel ("die Alte Jehoverin", Zitat meiner Großmutter) und ich war dadurch viel in Kontemplation, aber das war irgendwann langweilig und so suchte ich mir Beschäftigungen, die oft in Katastrophen führten, die eher unfreiwilliger Natur geschahen, aber hier, in dieser Erzählung, in diesem Bild, das ich zeichnen möchte, war es auf dem Balkon ein Moment der Ruhe und Beobachtung, nämlich die der Ameisen, die die Großmutter verachtete, stets bekämpfte und die sie als größten Feind ihrer Küche ansah. 

Was die Natur anging, so klärte man mich nicht, eigentlich nie, auf, ich erkundete selbst und dadurch, dass der Großvater stets mit Krankheiten zu tun hatte, stand bei uns der Mensch im Mittelpunkt, wenngleich, auch die böse Siamkatze Susi. 

Nun, ich sah den Ameisen zu, war in Hockstellung, der Rücken krumm, der Kopf war gesenkt. Von drinnen hörte man eine mahnende Stimme: "Liebes! Du bekommst auf Dauer einen krummen Rücken! Setze dich ordentlich hin!" Ich ignorierte es, denn ich war viel zu fasziniert von dem geschäftigen Treiben. 

In einer Linie gingen die Ameisen über den Balkon und verschwanden hinter dem Balkoneck, es ging dort abwärts. Wir Menschen können das nicht, die Hausmauer entlanggehen, das war meine erste Erkenntnis, die ich faszinierend fand.

Von drinnen wieder: "Kind!"

Ich setzte mich, mit geradem Rücken in den Schneidersitz und beugte mich sogleich gerade nach vorne. 

Plötzlich, ich weiß nicht, warum ich es tat, zerdrückte ich eine aus ihren Reihen und dann geschah für mich das Grauen. Die Reihe dahinter stoppte für einen Bruchteil einer Sekunde, dann sammelten sich die hinteren und die vorderen kamen zurück und sie bemühten sich, schulterten die Kameradin und trugen sie fort. 

Ich erschrak derart, dass es den Ameisen nicht egal war, dass einer von vielen verstarb, dass sie ihn schulterten und wegtrugen, empfand plötzlich Schuldgefühle, dass ich das getan hatte, ertrug diese Gefühle kaum. 

Bedrückt stand ich auf und ging in das Schlafzimmer meiner Großeltern, wo mein Bett stand, legte mich hinein, zog die Decke über den Kopf und weinte vor Schmerz und Scham. 


Kurze Zeit später, es machte die Sache schlimmer, verstarb die alte Frau Zuzak und wie es am Land üblich war, war nicht nur die Kirche der soziale Treffpunkt, sondern auch der Friedhof, wo man seine kollektive Betroffenheit kundtat, da nahm mich die Großmutter mit, der Großvater sparte sich das Aufgebot an Dekadenz, da zeigte man seinen neuesten Schmuck oder fuhr mit dem neuesten Auto vor, es war mein erstes Begräbnis und ich sah, wie Sargträger den Sarg schulterten und davontrugen, wie die Verstorbene in ein Erdloch kam und die Angehörigen weinten und da begann ich zu weinen und schüttelte mich, niemand konnte mich beruhigen und ich begann zu schreien, dass ich das nicht wollte und ich wollte das doch nicht! 

Die Großmutter kannte sich nicht aus, zog mich abseits und sagte streng, dass man sich "So nicht aufführen soll!" Sie fragte nicht, was mir fehlte. Ich nickte nur und schluchzte leise vor mich hin. 

Respekt vor dem Leben wurde mir durch eine Ameise gelehrt.


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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (15.01.23, 17:34)
Daß die Ameisen sich um eine getötete "Mitschwester" gekümmert haben, überrascht mich. Als "Täter" hätte auch mich das sehr beeindruckt, nicht nur in Kindertagen. Tiere können uns beschämen.

Als Kind habe ich einmal erlebt, wie andere Kinder einen toten Frosch mittels eines in den Hintern gesteckten Strohhalms aufgeblasen haben. Mitgemacht habe ich nicht. Aber habe ich sie zurechtgewiesen? Nein. Tiere können uns beschämen.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 15.01.23 um 18:12:
Danke, Graec, ich habe die Ameise zu einer SIE gemacht. Ja, sie tragen alles Tote weg, sind die Gesundheitspolizei der Natur. Jedoch, dass wir es ihnen gleichtun, das war als Kind für mich traumatös.

 Graeculus antwortete darauf am 15.01.23 um 18:25:
Ich verstehe das. Alle Menschen, die wir lieben, überhaupt alle Menschen, sind irgendwann einmal 'weg'. Sie verlassen uns ... und sie werden 'entsorgt'. Das ist beängstigend. Und keine Alternative weit und breit.

Die Tibeter legen traditionell die Leichen an exponierten Stellen ab, damit die Geier etwas davon haben. Das wirkt vermutlich auf Kinder noch erschreckender, hat jedoch - so meine ich - einen tiefen Sinn, denn es sieht die Natur als eine Einheit. Der chinesische Philosoph Zhuangzi meinte einmal, auf seine Bestattung angesprochen: "Ob mich nun die Würmer in der Erde fressen oder die Geier, warum sollte ich da parteiisch sein?" Wir sind Natur. Dies einzusehen, erscheint mir als ein großer Schritt vom Kind- zum Erwachsensein.
Oder?

 Mondscheinsonate schrieb daraufhin am 15.01.23 um 18:27:
Ja, aber mit Vier war die Erkenntnis zu früh.

 Graeculus äußerte darauf am 15.01.23 um 18:34:
Mit Vier, oje, viel zu früh. Es ist nicht leicht, ein Kind zu sein. Aber wenn es leicht wäre, hätten wir vielleicht gar nicht das Bedürfnis, erwachsen zu werden. Schmerz ist ein starker Motor.

 Mondscheinsonate ergänzte dazu am 15.01.23 um 18:59:
Und...Unabhängigkeit, das ist eine andere Geschichte.
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