Der Herzchirurg

Short Story zum Thema Lebenszeiten

von  uwesch

Dieser Text gehört zu folgenden Textserien:  SHORT STORYS,  PHASEN DES LEBENS (Prosa)

Als Student lauschte er, wenn er allein sein wollte, den gleichmäßigen Rhythmen der an die Felsen schlagenden Wellen der kalifornischen Pazifikküste. Wie ein Besucher aus einer anderen Welt versuchte er die dumpfen Trommeln eines fremden Stammes zu entschlüsseln. Diese scheinbar monotone Übereinstimmung empfand er als überwältigend, kam aber nicht hinter das Geheimnis dieser Rhythmen.

Erst sehr viel später sollte er erkennen, was ihm damals nicht hatte einleuchten wollen. Diese sich selbst beweihräuchernde Humanitätsduselei in der christlich-bürgerlichen Familie, in der er aufwuchs. Dann die Herzhaftigkeit seiner Mutter, mit der das Leben wortreich versimpelt wurde.

Seine Studiensemester an der University of California - San Franzisco in den wilden 60ern blieben ihm unvergesslich ins Herz gebrannt. Love and Peace, Drogenexzesse und die großen Demos gegen den Vietnam-Krieg bestimmten diese Zeit. Jimi Hendrix und Janis Joplin waren damals seine Musik-Favoriten. 

In seinem Beruf als gestandener Chirurg sah die Welt ganz anders aus. Das Leiden der Angehörigen, wenn ein Patient nicht mehr gerettet werden konnte, lastete auf seiner Seele. Eines Tages starb ihm ein kleines Mädchen unter dem Skalpell weg. Ihr unruhiger Herzrhythmus kam endgültig zum Stillstand. Er wusste, dass er sie hätte retten können, wenn er im richtigen Moment den entscheidenden Schnitt exakt getan hätte. Doch er war wegen der langen Nacht mit wieder zu viel Alkohol im Blut nicht mehr ganz Herr seiner Fähigkeiten. Seine Frau hatte sich schon vor Jahren von ihm wegen der Trinkerei getrennt.

Er beschloss, seinem Leben ein Ende zu setzen. Doch er schaffte es nicht, den Giftcocktail hinunterzustürzen, goss die Flüssigkeit ins Klobecken und spülte gründlich nach. Auf dem Weg zur Arbeit entschied er, sich eine längere Auszeit zu nehmen und eine Reise nach San Francisco zu planen. Er wollte noch einmal zu Fuß über die Golden Gate Bridge gehen und eine Fahrt an die Westküste unternehmen, um dem Rhythmus der Wellen des Pazifiks zuzuhören. 

Nachdem er eine Stunde auf einem Felsen gesessen hatte, stellte er fest, dass sein Herz genau sieben Schläge auf einen Wellenhub machte. Es hatte sich eingeschwungen. Er blieb noch lange sitzen und schaute dem Sonnenuntergang hinterher.



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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (17.01.23, 20:04)
Eine spannende Geschichte, wie sie das Leben schreibt.

LG
Ekki

 uwesch meinte dazu am 18.01.23 um 05:42:
Dank Dir für Deinen wohlwollenden Kommi und die Empfehlung.  LG Uwe
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