Je mehr...

Brief zum Thema Abschied

von  Mondscheinsonate

Lieber, 


Schnell ein Kaffee, ich bin krank und habe gerade Fiebersenker genommen, damit ich das Bulemielernen ertragen kann. Nächste Woche habe ich zwei Klausuren. Dieses Semester brachte ich fast nichts zusammen, meine Motivation war gleich Null. 

Aber, jetzt geht mir der Hintern.

Ich musste noch lange über meinen Text "Charly" nachdenken, über das tiefe Niveau meiner Mutter. 

Das war seltsam, früher sprach sie schön, aber je mehr sie soff, desto tiefer wurde ihre Ausdrucksweise. Ich sah das auch bei dem bürgerlichen Mädchen, das sich mit dem Alkoholiker einließ, selbst zur Alkoholikerin wurde und sein Niveau nicht nur erträgt, sondern sich nur noch mit der untersten und tiefsten Schiene an Benehmen umgibt. Ist das so, wenn man sich aufgegeben hat, dass man ganz vergisst, wer man war und ist? 

Meine Mutter begann mich grob zu schimpfen, von Hurenkind über Bastard, hin zu Arschloch und Missgeburt. 

Es war unfassbar, was da aus dem betrunkenen Mund rauskam. 

Manchmal wünschte ich mir, dass sie einfach nicht mehr aufwachen würde und schämte mich gleich, aber die Verzweiflung war schon so groß. 


Ich meide Betrunkene, mir hat der letzte Typ gereicht, der war ein Wahnsinn, beschimpfte mich auch bis zum Irrsinn und am nächsten Tag war er lieblich und wusste nichts mehr. Der hat sich definitiv nicht geändert. Beinahe tut mir sein besoffenes Anhängsel leid, aber nur beinahe, denn jeder ist des eigen Glückes Schmied und ich hätte mir das auch nicht geben müssen. 

Also, kein Mitleid.


Du fehlst mir. Aber, ich kann dich nicht besuchen gehen, ich muss die Zeit nützen, jede Minute. Die Engerlfrau versorgt dich sowieso, den Gegenwärtigen, mit ihrer Liebe. Die Arme, leidet sicher sehr.


Ein Lieber fragte mich, wie ich dich lieben kann, du, der mich gezüchtigt hat?

Hast du nicht Strafe genug dafür bekommen? Drei Jahre Hintern auswischen lassen und Schmerzen wie Sau und dann auch noch der Tod? Ich glaube schon. Gottes Mühlen mahlen langsam, aber gerecht, das hat Oma immer gesagt.

Ich liebe dich für das davor. Für das, was ich heute geworden bin. Wäre es nach meiner Mutter gegangen, wäre ich heute Rassistin, Antisemitin, ein wahres Arschloch, das sich nur für sich interessiert. Du hast mir den Kopf geöffnet und mich mit Bildung gefüttert. Du und mein Großvater. Daher, liebe ich dich. 

Aber, weil ich MEINE Zukunft vor mir habe, muss ich jetzt etwas tun.


Bussi.


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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (18.01.23, 17:51)
Ich liebe dich für das davor. Für das, was ich heute geworden bin. Wäre es nach meiner Mutter gegangen, wäre ich heute Rassistin, Antisemitin, ein wahres Arschloch, das sich nur für sich interessiert. Du hast mir den Kopf geöffnet und mich mit Bildung gefüttert. Du und mein Großvater. Daher, liebe ich dich.

So erklärt, ist der Aspekt der Liebe nachvollziehbar, zumindest für mich.

Eine Frage:
Selbstverständlich prägen Eltern (sagen wir hier: die Mutter) ihr Kind. Sie können das aber auf zwei Weisen tun: einmal, indem die Kinder so werden wie die Mutter, aber auch so, daß sie - aus Ekel oder Trotz - gerade das Gegenteil werden. Eine Alkoholikerin kann also eine Alkoholikerin als Tochter hervorbringen oder eine Anti-Alkoholikerin, eine Rassistin eine Rassistin oder eine Anti-Rassistin.
Bist Du Dir sicher, daß Du ohne den Einfluß von R. eine Rassistin etc. geworden wärst?
So rundum enttäuschend, wie Deine Mutter für Dich war, traue ich Dir auch das Gegenteil zu.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 18.01.23 um 17:59:
Das kann ich dir nicht beantworten.

 Graeculus antwortete darauf am 18.01.23 um 18:08:
Und doch hast Du mit Deiner Antwort genau das getan: nein, Du bist Dir nicht sicher. Ich selbstverständlich ebensowenig.
Man weiß es nicht. So, wie Du gegangen bist, war es ein Weg, nicht so zu werden.
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