Deutsch, schlecht - Komasaufen gut (Version 1; Ich-Erzähler)

Kurzgeschichte zum Thema Alltag

von  Koreapeitsche

Deutsch, schlecht Komasaufen, gut

(Version 1, Ich-Erzähler)

 

Always look on the bright side of punk!

 

Eine Vielzahl an Punk-Songs handelte von Selbstzerstörung. Darunter waren Songs wie “Self Destruct“ von GBH, „Das Wahre Leben“ von Cotzbrocken oder „Vakuum“ von Toxoplasma. Wir arbeiteten lange an diesem Thema.

            Durch die vielen Alkoholexzesse ließ meine Leseleistung in der Schule drastisch nach, die ohnehin schon schlecht war. Nur bei Comics, Fanzines und Plattencovern war ich voll bei der Sache.

      Manchmal sah ich beim Lesen Sterne und Punkte, die gar nicht existierten oder wenn überhaupt irgendwo in meiner Imagination, also irgendwo in meinem Gehirn oder, wie mir ein Augenarzt später darlegte, im Glaskörper der Augen. Je nachdem nennt sich das Halluzination, Schwebestoffe im Glaskörper oder ganz vorsichtig Leseschwäche.

      Meine Gedächtnisleistung war oftmals eingeschränkt, sodass ich gelesene Inhalte entweder nicht behalten konnte, oder sie überlas, weil in meinem Kopf ein anderer Film lief und ich mich nicht auf den Textinhalt konzentrieren konnte und wollte, selbst wenn die Lehrer mich dazu zwangen. Ich bekam lediglich bei Reizwörtern Kicks, ohne die textlichen Zusammenhänge zu schnallen, geschweige denn einen ganzen Satz zu erfassen. Manchmal assoziierte ich etwas bei gelesenen Wörtern, was meine Gedanken abschweifen ließ. Häufig war ich mental schon beim nächsten Besäufnis am Wochenende und beim nächsten Punk-Meeting. Denn das war überlebenswichtig für meine Psyche. Ich identifizierte einige Wörter falsch, weil sie ähnliche Buchstabenkombinationen enthielten wie abstrakte und konkrete Gegenstände, für die ich mich mehr interessierte – Koma sei Dank. Bei „Punkt“ lese ich „Punk“, bei „Poncho“ „Pogo“ und bei „Anapher“ „Anarchy“.

Wahrscheinlich war das eine nicht diagnostizierte Dyslexie oder sogar Alexie oder eine alkoholbedingte Gedächtnisstörung. Für mich war es das Koma-Sauf-Syndrom. Punkt fertig.

      Schlimmer war es im Englisch-Unterricht. Ich reagierte bald nur noch auf Wörter, die ich von Bandnamen, LP- und Songtiteln englischsprachiger Punkbands kannte. Ich machte einen richtigen Kult daraus und freute mich, wenn Wörter wie to exploit, discharged oder rejected fielen oder ich sie las. Da dachte ich an Bands wie The Exploited, Discharge oder Cockney Rejects und konnte mich mitunter minutenlang freuen, bis ich aus meinem Punktraum wieder erwachte.  

      Auch beim Schreiben verlor ich den Faden, wiederholte mich oder checkte nicht, worum es ging – Komasaufen sei Dank.

Auf dem Pausenhof erzählte mir jemand, dass bei jedem Vollsuff Millionen von Gehirnzellen zerstört würden.

      „Dann sind bald keine mehr über!“

hieß es danach allzuhäufig.

In einigen Schulpausen zerrte ich mir obendrein ganze zwei Zigaretten direkt nacheinander rein, zog an der Zippe wie ein Süchtiger, hielt bei gefüllter Lunge kurz den Atem an, bis der Rauch wie bei einem Stier durch die Nase herausschnaubte. So konnte ich das Beste für meine Nasenschleimhäute herausholen. Der Nikotin-Flash reichte bestimmt für die ersten zehn bis 15 Minuten des Unterrichts, je nachdem, was für Zigaretten am Start waren. Notfalls roch ich noch einmal an den gelben Nikotinfingern, um einen Flashback zu bekommen. Jetzt erst ließ ich mich treiben.

      Seitdem ich so unermesslich viel soff, wurde das Schriftbild immer schlechter. Bei den vielen durchgestrichenen Elementen, Buchstaben, Wörtern, Sätzen und Satzzeichen, ja teils ganze Absätze, wirkte der Text wie ein Entwurf, radikal Korrekturgelesen oder im Extremfall wie eine Skizze oder ein Schmierblatt. Bereits beim ersten Schreiben produzierte ich Unmengen an Flüchtigkeitsfehlern und Textchaos, was vor allem am Satzbau-Pogo lag. Meine Mitschüler sagten, ich hätte einen Schaden. Heutzutage würde es heißen Attention Deficit Syndrome.

Umlaute setze ich zunächst nicht. Wenn überhaupt erst später, allerdings malte ich keine Punkte, sondern schräggestellte Gänsefüße über a, o und u. Das war mein gutes Recht.

      Viele Schreibkonstrukte waren irreparabel, sodass das Blatt Papier am besten gleich im Papierkorb hätte landen sollen. Das war No Fun für die Lehrer und meine Tischnachbarn, und ich tat mir selbst keinen Gefallen damit. Zu allem Übel kritzelte ich Micro-Comics in meine Schulhefte. Ich malte klitzekleine Punks mit Iros, Skinheads mit fetten Ohrringen, Männeken mit Psychobilly-Frisuren, fliegende Schweine, Fledermäuse, Augen, immer wieder Boots mit dicker Beule vorne, Sprechblasen und das Haus vom Nikolaus. Es war Anarchie auf dem Papier, Chaos im Satzbau. Wenn ich schon meine Meinung im Diktat nicht äußern durfte, wollte ich trotzdem auf meine Art ein Statement abgeben.

      Beim Schreiben strich ich immer wieder Wörter durch, als bearbeitete ich einen Telegrammtext, der gekürzt werden sollte, schrieb über die durchgestrichenen Wörter andere, die ebenso wenig passten, die deutlich kleiner waren und die ich in vielen Fällen ebenso durchstrich. Häufig konnte ich meine eigene Schrift nicht mehr lesen, obwohl ich sie doch erst wenige Minuten zuvor hingekliert hatte. Irrtümlich schrieb ich Wörter doppelt. Das kam auf jeder DinA4-Seite bestimmt zwei- oder dreimal vor: „weil weil“, „durch durch“, „und und“. Da lief kognitiv irgendwas verkehrt. Rechtschreibregeln konnte ich mir nur merken, wenn die Lehrerin einen Merksatz daraus machte:

      „Wer nämlich mit ‘h‘ schreibt ist dämlich.“

Das kam bei mir an. Das konnte ich bei Meetings außerhalb des Sinnzusammenhangs einbringen.        

      Bei Erörterungen hatte ich Probleme, meine Gedanken zu sortieren, was sich im Text widerspiegelte, und das nicht nur, wenn ich noch vom Vortag einen sitzen hatte. Beim Schreiben gab es Buchstaben, die ich grundsätzlich immer verkehrt schrieb oder verwechselte, oftmals d, t, tt und dt. Was ich als verkehrt erkannte, kritzelte ich Bruchteile von Sekunden später dick und fett über, sodass es nicht nur Deutschlehrer in Rage brachte. So kreierte ich einen neuen Buchstaben, ein d mit einem Querstrich, den es im Deutschen gar nicht gibt, also đ, der soweit ich weiß als Dyet bezeichnet wird. Letztendlich konnten die Lehrer selbst entscheiden, ob d oder t.

Manchmal war ein Wort noch nicht einmal zu Ende geschrieben, als ich erkannte, dass der Anfangsbuchstabe falsch war. Das nervte mich tierisch, und ich stand vor der Entscheidung, einfach weiterzuschreiben oder den Schreibfluss abzubrechen.

Es sah aus wie hingerotzt, wie Appetenzverhalten mit dem Füller, Diagnose Langeweile. Wann wird es endlich wieder Samstag? Wann ist endlich das nächste Punk-Meeting in der Wik? Wann kommen die bestellten Pogo-Scheiben von Vinyl Boogie oder Groovers Paradise endlich?

      Es gab Tage, da schaffte ich mit meinen Wichsgriffeln nicht einen fehlerfreien Satz. Manchmal stoppte ich mit dem Füller um zu überlegen, bis sich das Blatt Papier mit Tinte vollsaugte. Ich besorgte mir blaue, grüne, schwarze und auch rote Patronen und wechselte nach Belieben, um mehr Farbe ins Spiel zu bringen. Es gab deshalb mehrmals Rüffel, bis ich konsequent bei Schwarz blieb, auch wenn da der Tintenkiller kapitulierte, was ich manchmal nicht checkte und trotzdem den Tintenkiller ansetzte. Das gab natürlich eine Sauerei. Geil war es, wenn bei einer Klausur die Tinte immer schwächer wurde, ich eine andere Farbe einwarf und die Schrift langsam mit einem Komplementäreffekt die Farbe wechselte. Wenn ich später die Umlauttüpfelchen nachtrug, war das ein Heidenspaß und kunterbunt, auch wenn die Lehrer*nnen später ausflippten. Zusätzlich verschmierte ich als Rechtshänder vieles mit der Handkante, was ich nicht aufs Onanieren zurückführe, jedoch auf den Drücker der Carrera-Bahn oder den Atari-Joystick. Irgendwie schaffte ich es regelmäßig, Fingerabdrücke zu hinterlassen, was irgendein unterbewusster Prozess gewesen sein musste, aber astrein aussah, als hätten die Cops bei mir reingefingert.

      Eine weitere Spezialität war, großgeschriebene Wörter, die mit ‘G‘ begannen, automatisch klein zu schreiben, sodass ich mit einem finalen Kunstgriff wie bei einer geschwungenen Unterschrift ein großes G daraus machte. Das zelebrierte ich richtig. Da bleibt Dir fast nichts anderes übrig als einen Punkroman zu schreiben.  

 



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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (18.01.23, 15:07)
Wann kommt Version 2? Und in welcher Perspektive ist diese geschrieben?
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