Abgestandene Luft

Text

von  Kaaa

Barbie und Ludwig wollten nach Amerika; ein Schiff in Hamburg nehmen, drüben einen Bus kaufen mit Kassettenrekorder und die Fernsehbilder ihrer Kindheit abfahren: Wüste, Ozeane, endlose Highways; weiße alte Männer, die in Geisterstädten mit Gewehren auf ihren Veranden sitzen und zum Quietschen der Hollywoodschaukeln auf Trespasser warten. In New Orleans mit Grandpa Elliot und Washboard Chaz auf den Straßen tanzen wollten sie, in heruntergekommenen Motels absteigen, Kleingeld in eine Jukebox werfen.

 

Wie lange lauert der schwarze Schimmel schon an der Wand neben meiner Heizung? Er ist mir gerade erst aufgefallen. Kann er sich wirklich in der einen Woche gebildet haben, die ich bei meiner Mutter verbracht habe oder breitet er sich schon länger unter der Tapete aus? Feucht ist es eigentlich nicht in meinem Schlafzimmer. Ich weiß es nicht, ich will es nicht wissen, bin des ganzen Wollens müde und des Wissens sowieso. Ich werde die nähere Untersuchung ans Ende meiner Liste der unangenehmen Aufgaben einreihen, das heißt, dass ich mich frühestens im Sommer darum kümmern kann, wenn ich alle Schulden abbezahlt habe, nein, das ist zu optimistisch: wenn ich mich wieder erinnern kann, wo überall ich noch Schulden habe. Ich warte, bis sie anfangen, mir auf den Geist zu gehen. Auf diese Weise trage ich den Berg Schicht für Schicht ab. Von meinem Gehalt bleibt mir gerade genug, um zu überleben. Anders als meine Figuren, die mit trübem, fiebrigem Blick im Bauch von Berlin herumlungern, kann ich mir immer noch eine Wohnung leisten. Irgendwann werde ich zusammenklappen unter dem Gewicht des Alltags und werden wie sie. Was ist eigentlich schlimmer, Schulden oder Schimmel? 

 

Ich komme nicht weiter, das ist das Schlimmste. Langsam will ich auch gar nicht mehr weiterkommen. Und sonst auch nichts. Ich war nie hoffnungsloser. 

 

Barbie, barfuß bei jedem Wetter, hatte nicht mehr, als in den zerschlissenen altrosa Puppenwagen passte, den sie hinkend vor sich herschob wie ihre Zukunft; sie trug schon schwer genug an ihrer Leibhaftigkeit, fand sie. Niemand, nicht einmal Ludwig, kannte ihren wirklichen Namen, den ersten, den ihr die Eltern nach ihrer Geburt gegeben hatten; sie selbst hatte ihn längst vergessen. Sie zog es vor, neugeboren zu bleiben. „Barbie, wenn ich eine Frau wäre, wäre ich wie du“, hatte Ludwig am ersten Abend zu ihr gesagt. Das war das Schönste, was sie je von einem Mann zu hören bekommen hatte. Deshalb blieb sie bei Ludwig, der die langen Beine schwang wie Pink Panther und schon seit zehn Jahren auf derselben Stelle trat, aber dreimal in einer Stunde mit der Farbe seiner Augen von blau zu grün zu grau nicht nur die Laune, die ganze Persönlichkeit wechseln konnte: zusammenklappte, hochschnellte, sich in alle Richtungen zerstreute. „Hau ab!“, konnte er plötzlich, scheinbar ohne Anlass, aus den krampfenden Därmen hervorwürgen:

 

Kennengelernt haben sich diese beiden natürlich im Görlitzer Park. Neulich, als ich mir nach der Arbeit eine Pizza um die Ecke holte und mir draußen, schon mal eine Tüte drehte, saßen sie neben mir. Nur weniger schön waren sie als meine Figuren und sie sprachen Bayrisch. Oder vielleicht Österreichisch? Außerdem nahmen sie sich ernster. Das Mädchen war viel jünger als der Mann, dem schon die Haare ausgingen, so viel jünger, dass ich sie als Mädchen abgespeichert habe, obwohl sie genaugenommen wahrscheinlich eine Frau war. Wie meine Barbie. Sie waren auch viel naiver. Das Mädchen erzählte davon, wie sie mit einem Schlag alle Freundschaften verloren hatte. Sie hatte ihnen von ihrer Krankheit erzählt und pang, weg waren sie. Auch ihr eigener Vater. Der Papa, sagte sie immer mit einer so zutraulichen Art, als wäre der Papa allen am Tisch bekannt. Es waren liebe Leute. Ich schätze, noch nicht wohnungslos. Aber herzzerreißend diese Naivität ohne jede Ironie. Erfrischend. Die Worte und Sätze von Menschen, die ein viel schlimmeres Leben führen als ich, vermutlich seit sie geboren sind, authentisch, ohne die Maske der Ironie, die eins mit dem ist, was ich meine Haut nenne. Ich schreibe „Ironie abgewöhnen“ auf meine Liste.



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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (26.01.23, 06:34)
Hallo Kaaa,
sich die Ironie abzugwöhnen, ist vermutlich ein todbringender Vorschlag. Wie sollte sich der Alltag im und am Görli ohne sie ertragen lassen? ---

Aus meiner Sicht ist dieser Text vorbildlich aufgebaut und stärkt den (vergleichenden) Inhalt spielerisch.

Herzlich willkommen!

Kommentar geändert am 26.01.2023 um 06:35 Uhr

 Kaaa meinte dazu am 26.01.23 um 16:04:
Danke!
Die Frage, die ich mir stelle, ist, ob die ironische Darstellung vielleicht zu bürgerlich ist, um diesen verkrachten Existenzen gerecht zu werden...

 tueichler (29.01.23, 23:47)
Der Wechsel der Geschichten und Perspektiven gefällt mir!

Tom😎

 Kaaa antwortete darauf am 01.02.23 um 19:00:
Danke!

 Dieter_Rotmund (02.02.23, 15:18)
Ist das so eine Art Traumidyll obdachloser Drogen-Junkies?

 Kaaa schrieb daraufhin am 05.02.23 um 10:46:
Hmmm, ich weiß nicht genau. Meinst du Amerika oder Berlin?

 Dieter_Rotmund äußerte darauf am 05.02.23 um 12:51:
Die USA-Schilderung.

 Kaaa ergänzte dazu am 05.02.23 um 13:07:
Ich würde sagen, dieses Bild von Amerika haben viele Menschen im Kopf, aber nicht alle halten dieses Bild für einen Ort, an den man fliehen kann.
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