Verspannung

Brief zum Thema Abschied

von  Mondscheinsonate

Liebes,


Heute bin ich unkonzentriert, meine Muskelverspannung tut im Rückenbereich derart weh, dass ich mich kaum bewegen kann. Sitzen ist überhaupt eine Qual, die größte Qual schlechthin. 

D. schickte mir ein TikTok- Video von ihrer Enkelin, das ich mir angewidert ansah, nein, es war nicht die junge Dame, die mich anwiderte, die sah aus, wie der hübsche Einheitsbrei, der jetzt überall herumläuft, sondern die Umgebung widerte mich derart an, dass ich nachher richtiggehend angeekelt war, denn das war in der Wohnung ihrer Mutter, sie tanzte zu einem, mir unbekannten Lied, es war ein Couchtisch zu sehen, auf dem stand ein gebrauchter Teller, sonstiger Unrat, gebrauchte Servietten lagen herum, komplette Unordnung. Rechts davon war ein Fernseher, bei dem die Kabeln herunterhingen und hinten ein Regal, mit geteilten Fächern, wo weiterer Unrat wild durcheinander lag. Der Raum war eng. 

Mich ekelte es derart, dass meine Laune sofort sank, denn es waren dieselben Möbel wie vor 26 Jahren, ich war oft in der Wohnung und es sah gleich unaufgeräumt aus und es ist eng und erstickend. 

Die Wahrheit, mich stören geschmacklose Wohnungen nicht, aber mich störte DIESE Wohnung, weil DIESE Wohnung zwei Stockwerke über DEINER Wohnung ist. 

Es ist ein Unterschied, ob ich aus der Erinnerung erzähle, aus meinem Kopf heraus, der immer ausschmückt, oder ob ich es dann sehe, wie es dort ausgesehen hat und noch immer tut und der Ekel kam in mir hoch. Der Ekel des Näherkommens, viel zu nahem Elend. Es stört meine Verklärung.

Diese Enge, diese Schäbigkeit war auch bei uns, bei dir nicht, du hast eine Wand entfernt. Ewig dieselben Möbelstücke aus längst vergangenen Zeiten, das düstere Braun. Nicht so bei dir, alles war hell. Und meine Verkrampfung am Rücken verstärkte sich als ich darüber nachdachte. Und eigentlich wollte ich das Innere dieses Hauses nicht sehen, keine Wohnung, tatsächlich von niemanden, der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen, wenngleich dieses Gesicht hübsch war. 

Aber, weißt du was, da lernt man gleich seine eigene Gegenwart mehr zu schätzen, liebevoll sah ich danach durch meinen Raum, der hell, freundlich und aufgeräumt ist, der mich nicht einengt, wie es früher einengte, wo keiner sein Privatleben hatte, wo ich durch das Schlafzimmer meiner Mutter gehen musste, um in mein Zimmer zu gelangen, wo ich ständig flüchten musste, zu dir flüchten, damit ich in der verpesteten, verrauchten Enge atmen konnte, das Klima des Grauens verpestete die Zwischenmenschlichkeit und wo der kleine R. und ich im Stiegenhaus saßen, plauderten, weil wir uns dort wohler fühlten als in der Enge der Verpestung unserer Eltern, die Zwischenmenschlichkeiten nicht aushielten. Es ist nichts zu verklären. Es war grauenhaft und ich atmete auf, als ich ging, ich war frei, ein freier Vogel, lernte aber viel später erst zu fliegen und hätte ich nicht Jahre in der hellen, freundlichen Wohnung in der Wipplingerstraße verbringen dürfen oder in der Marc-Aurel-Straße, wäre ich eingegangen, verwelkt, sicherlich zugrunde gegangen. Nein, ich verkläre gar nichts mehr, da gibt es nichts zu verklären, es war schrecklich, heute sah ich es schwarz auf weiß in bunt. 


D. sagte, deine Wohnung ist schon leer. Ging schnell, es wird sicher bald jemand einziehen. 

C. fragte mich heute, als ich ihr das erzählte, ob ich die Wohnung der Mutter haben will? Mich ekelte die Frage, ich sagte: "Nein!" - "Für die Kleine," sagte C.

Da antwortete ich: "Das muss meine Schwester entscheiden."

Meine Nichte hat keine Ahnung von dem Grauen, das ginge, dachte ich, aber dann dachte ich an einen Besuch im Grauen. Mich schüttelte es. 

Ich werde dich morgen besuchen kommen, beinahe wollte ich schon sagen: "Gott sei Dank kann ich dich besuchen, es ist nicht dort!" 

Aber, ja, das passt nicht. 

So ein Grauen empfinde ich nicht einmal vor deinem Grab, mir so ein Grauen zu entlocken, schafft nur dieses Haus. 

Ich lehne mich zurück, hier ist es schön, hier, in meiner Gegenwart.


Bussi.



Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren

Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (24.02.23, 17:43)
Ich lehne mich zurück, hier ist es schön, hier, in meiner Gegenwart.

Schöner Schlußsatz. Wer das von sich sagen kann! Gleich, wieviel er hinter sich gelassen hat.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 24.02.23 um 17:48:
Manchmal braucht man doch Bilder, um es zu kapieren.

 Graeculus antwortete darauf am 24.02.23 um 17:57:
"Don't look back!", sagt der 'Apostel' Dir seit Jahren. Und er ist fest davon überzeugt, daß Dir das jeder sagen würde, der von außen Deine hier ausgedrückten Empfindungen verfolgt. Aber wer hört schon auf Apostel? Irgendwann wirst Du es selber, aus eigenem Impuls, einmal einsehen.

 Mondscheinsonate schrieb daraufhin am 24.02.23 um 18:02:
Nicht: Don't look back, sonst gäbe es keine Geschichten, eher don't bleib picken.

 Graeculus äußerte darauf am 24.02.23 um 18:11:
Das kann man so sehen - doch die Geschichten sind überall. Auch Deine bewegen sich ja - zum Glück - nicht nur in der Vergangenheit.

Heute bin ich zur Sparkasse gegangen, und die Frau am Schalter hat mir etwas gesagt, was mich beeindruckt hat. Eine kleine Geschichte. - Du gehst zu einem Bewerbungsgespräch und siehst plötzlich ein Straßenschild. - Und da sind wir noch bei den kleinen Dingen, nicht bei der OSZE-Konferenz, die derzeit in Wien stattfindet.

Geschichten sind überall, wenn man die Augen aufmacht. Natürlich kann man sie auch aus der Vergangenheit beziehen, aber doch nicht, wenn dann die Wunden immer und immer wieder zu bluten beginnen.

Ich schätze, diese Diskussion ist und bleibt ein Evergreen zwischen uns.

 Mondscheinsonate ergänzte dazu am 24.02.23 um 18:16:
Und, ich kann dir jetzt mit 100%iger Sicherheit sagen, dass ich meine Gegenwart gern habe, trotz der Geschichten. Jetzt definitiv.

 Graeculus meinte dazu am 24.02.23 um 18:21:
Schau Dir mal die Schlüsselbegriffe in Deinem heutigen Text an: Enge, Ekel, Elend, Schäbigkeit, Verpestung. Und dann:

Und meine Verkrampfung am Rücken verstärkte sich als ich darüber nachdachte.

Allenfalls kann man zugunsten solcher geschilderter Empfindungen sagen, daß daraus letztlich eine verstärkte Freude an der Gegenwart entsteht, was allerdings nicht immer bei Deinen Texten der Fall ist.

(Das wurde geschrieben, noch bevor ich Deine Antwort gelesen habe, die mir gerade angezeigt wurde.)

 Graeculus meinte dazu am 24.02.23 um 18:24:
Gut. Dann hoffe ich, daß Du unter "mit 100%iger Sicherheit" das meinst, was wir hier darunter verstehen, und nicht (Zitat von gestern):

Hahaha, Graec, 100%! (Das sagt man in Wien, wenn es zuviel ist!)

Nein, ich wünsche mir wirklich, daß Du das 'in unserem Sinne' meinst, sonst wäre es arg.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 24.02.23 um 18:25:
Das Leben ist kein Ponyhof, da muss man durch.
Nein, 100% nachgestellt ist negativ.

Antwort geändert am 24.02.2023 um 18:26 Uhr
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram