Und immer wieder der verdammte Flughafen von Oslo

Text zum Thema Tod

von  Judas

Deutsche Rentner neben mir, durchplanen ihre Kosten und Reise auf einem kleinen Zettel. Also sie plant, er am Smartphone, passt nicht auf. Sie: wenn wir morgen um 9 aus dem Hotel gehen, dann können wir den Zug um 10 nehmen. Er: tippt.

Dem asiatischen Mädchen fällt der Schal runter, sie bemerkt es nicht. Deutsche Rentner: Hallo. Hallo! Mädchen irritiert, versteht dann aber doch recht schnell die Situation ihres Schals.

Völkerverständigung wird in Deutschland groß geschrieben, ich liebe es.

Trinke meinen zweiten Kaffee. Draußen liegt sowas ähnliches wie Schnee. Manche Flugzeuge tragen Gesichter. Von wichtigen, skandinavischen Menschen. Historisch.


Das Spiel des Lebens verlieren wir alle. Es gibt keine Gewinner. Es ist ein bisschen wie Monopoly, manche sind schon früher raus und spielen eigentlich gar nicht mehr mit, beendet wird das sowieso nie, alle nehmen Hypotheken auf, der mit den drei Hotels auf der Schlossallee sagt sowas wie „ach kommt, noch eine Runde, ihr kommt bestimmt wieder ins Spiel, ihr müsst nur auf Freiparken kommen“, ein Gewinner wird nie gekürt, irgendwann gehen einfach alle, einer ist schon seit 'ner Stunde auf dem Balkon und raucht.


Ich weiß nicht, warum du dich entschieden hast, mitten im Spiel auszusteigen, als alles noch lief.

Ich weiß es nicht, werde es nie erfahren, werde mich immer schuldig fühlen, werde wohl immer „es tut mir leid“ unter der Dusche sagen. Unter der Dusche ist dabei wichtig, da weiß man nicht, sind es Tränen, ist es Wasser, hab ich nur Shampoo im Auge.

Es wäre arrogant, anzunehmen, ausgerechnet ich hätte etwas ändern, etwas tun können, etwas verhindern können, das ist mir bewusst, aber das Gefühl von Schuld bleibt. Ein bitterer Geschmack auf der Zunge, dem des Flughafenkaffees nicht unähnlich.


Du wolltest gehen und ich weiß nicht, warum.

Und jetzt sitze ich am Flughafen von Oslo, ein letztes Mal auf dem Weg zu dir, nur reden, lachen, spielen – zusammen – das werden wir nicht.

Das werden wir nie mehr.


Ich glaube nicht an den Himmel.

Aber die Hölle scheint Wirklichkeit.



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Kommentare zu diesem Text


 eiskimo (24.02.23, 11:20)
Sehr plastisch geschrieben. Ich habe in deiner individuellen Tragik viel von der aktuellen Tragik der ganzen Welt wiederentdeckt. Zerwürfnis, Schuldgefühle, der Gedanke an Hölle .... aber vorne weg die deutschen Rentner in ihrer "was-können-wir-noch-mitnehmen-Blase"
LG
Eiskimo

 Judas meinte dazu am 24.02.23 um 11:25:
Ja, danke. Das hast du perfekt erkannt. Wir sind doch alle nur geduldet.

 Augustus (24.02.23, 18:19)
es scheint sich hierbei um einen Suizid einer vertrauten Person zu handeln. Die Freiheit die Tat auszuüben wird ja kontrovers diskutiert. Die einen sprechen dem freitodwollenden das Recht zu, mit seinem Leben nach Gutdünken zu verfahren, die anderen sprechen dem todwilligen das Recht von Freiheit ab. 
Nimmt man aber die vertrauten, Freunde, Angehörige aus dem nahen Umfeld hinzu, so löst das Recht auf Suizid bei den Verbliebenen einen schockierenden und traurigen Zustand aus. Die Rücksichtslosigkeit und Desinteresse des suizidenten gegenüber seiner Familie und seinen Freunden könnte den Suizid als selbstherrliche und immens egoistische Handlung werten. Es ist der letzte Akt einer sich im Recht wiegenden Person und der Auslöser einer Reihe an seelischen Verletzungen an Hinterbliebenen, der Suizid. 
Andererseits kann der suizident in genau umgekehrter Richtung behaupten, die die ihn am Leben halten wollen, handeln ebenfalls egoistisch, weil es seinem Willen widerspricht.

Es ist wie es ist, tragisch. Die Träger der Schuld sollen aber nicht die Hinterbliebenen sein, die sich mit Gedanken selbst martern, sie haben noch weitaus in ihrer Macht stehende unversucht gelassen, um die Person zu retten. 

Es tröstet natürlich der Gedanke, das nichts ewig währt, und jeder lebende Mensch früher oder später die Welt verlassen wird. Auch der Gedanke ist tröstlich, dass die Person keine üble Krankheit, die mit vermelaideten leiden einhergeht, hingerafft hat. 

PS: wie schmeckt ein Cappuccino in Oslo eigentlich? 

Salve.

 Judas antwortete darauf am 24.02.23 um 20:15:
Schmeckt okay. Kommt drauf an, wo man ihn holt, den Cappuccino.

 Mondscheinsonate (24.02.23, 18:32)
Wahnsinn! Extrem ausdrucksstarker Text. Tiefste Verneigung!

 Judas schrieb daraufhin am 24.02.23 um 20:15:
Danke.

 Polarpalme (24.02.23, 19:39)
Bahnhöfe, Flughäfen, Bushaltestellen -
es können Friedhöfe sein.
Aber auch Orte der Wiedergeburt.

 Judas äußerte darauf am 24.02.23 um 20:16:
Das Leben hat nur eine Station und zwar die Endstation. Die Hölle der Wiedergeburt möge uns allen erspart bleiben.

 Polarpalme ergänzte dazu am 24.02.23 um 20:23:
Ich meine nicht jene, sondern diese. Im Hier.

 Judas meinte dazu am 24.02.23 um 21:36:
Die sind ja noch da, ergo keine Wiedergeburt?

 Polarpalme meinte dazu am 25.02.23 um 11:13:
Ähm … Wiedergeburt im metaphorischen Sinne.
Flughäfen, Bhfe usw. sind ja erst einmal keine Endpunkte, sondern Schnittstellen aus Ende und Beginn. Verkörperlicht zB im Obdachlosen, der auf dem Bahnhof auf seiner Pappe sitzt, der scheinbar nirgends hinwill und scheinbar nirgends herkommt.
Zugegeben, etwas matrixphilosophielastig das Ganze 😉
Jedenfalls gern gelesen, deinen Text..

 Judas meinte dazu am 26.02.23 um 13:29:
Ja ich verstehe schon. In diesem Fall funktioniert die Metapher allerdings nicht weil es ja auch um den realen Tod geht und nicht den Metapherntod.
Danke
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