Vom Nutzen und Nachteil des Charmes (31.05.2022)

Essay zum Thema Allzu Menschliches

von  Hamlet

Der Charme ist wie ein Dietrich, mit dem man viele Türen öffnen kann, obwohl man eigentlich nicht den dafür entwickelten Schlüssel hat. Obwohl oftmals keine spezielle Kompetenz entwickelt worden ist, wird der Charmeur bevorzugt, wie sonst nur der Eingeweihte, der sich über Jahre hinweg durch spezielle Kompetenzen einen gewissen Rang erarbeitet hat. Dabei genügt es, an Thomas Manns Hochstapler Felix Krull zu denken, zu dem die Redewendung passt, dass die Menschen alles verzeihen würden, wenn man ihnen nur gefalle. 

 

 Bekanntlich öffnen sich auch der Schönheit viele Türen. Obgleich charmante Menschen attraktiv sind, müssen sie jedoch nicht unbedingt schön sein. Während die Schönheit ein architektonischer Zauber ist, so ist der Charme ein charakterlicher Zauber, durch den eine Art Dolce Vita erscheint, welche nicht nur lebensbejahende Menschen anzieht, sondern auch solche, die das Leben verneinen, gerade weil sie keine Hoffnung mehr auf ein unbeschwertes Leben gehegt haben. Sinngemäß bezeichnet Arthur Schopenhauer solche charmanten Leute auch als Lockvögel für das Leben. Ebenso weiß die Werbung mit Schönheit und Charme zu locken, um ihre Produkte zu verkaufen. Schönheit und Charme sind Hoffnungen auf ein gelungenes Äußeres und Inneres, auf einen Körper und eine Seele, in denen es sich leben lässt. 

 

 Wo aber die Natur ihre Güter ungerecht verteilt, ist auch der Neid am dollsten. Dieser wird abgemildert, wenn neben dem Nutzen auch der Nachteil des Charmes deutlich wird. Vielleicht ist gerade der Neid auch der größte Nachteil, den der charmante Mensch direkt oder indirekt erfahren muss. Sind nicht viele Models früher gemobbt worden? Zeigen nicht Märchen wie Schneewittchen schon die Gefahr des Vergiftet-Werdens? Wieviel Mordfantasien fürchtet ein Prachtexemplar durch den Neider, der etwa wie Hagen auf einen Siegfried blickt und selbst den eigenen Untergang in Kauf nimmt, um den unerträglichen Glanz, um das Schöne, um das Charmante zu zerstören?  

 

Die den Charmanten lieben, haben das Glück, dass sie sich ihn zum Vorbild wählen können, wenn sie eine potentielle Ähnlichkeit wittern, wodurch sie lernen wollen und ihren destruktiven Neid konstruktiv machen. Der Konkurrent wird manchmal gehasst, weil er droht, uns in den Schatten zu stellen. Der Meister wird geliebt, solange der Abstand noch so groß ist, dass wir mit ihm nicht konkurrieren können, wodurch wir in ihm nur unser eigenes Glück sehen. So entstehen auch Fan-Gemeinden im Sinne des konstruktiven Neids. 

 

Wer aber etwas sein will, was er potentiell nicht ist, kann vom Fan zum Hasser werden, sobald er merkt, dass er sich trotz Nachahmung nicht entwickelt hat, bis er sich enttäuscht abwendet, um woanders seine Identität zu suchen. Auch aus diesem Grund sind viele, die in jungen Jahren oft links-multikulturell gewesen sind, rechts-konservativ geworden, wenn sie meinen, sich nun endlich selbst erkannt und akzeptiert zu haben. Und dann müssen sie sich erstmal abgrenzen, damit die eigene Identität entwickelt wird. Erst wenn sich eine eigene Kultur anverwandelt worden ist, kann sich auch wieder mit einer anderen Kultur befreundet werden, da sie ihn nicht mehr überwältigt, ja da sie ihn nicht mehr vernichtet, insofern ihn vorher eine Fremd-Kultur von sich selbst wegzog. 

 

Um auf den Neid zurückzukommen, sei betont, dass es immer nur die Charme-Träger der Fremd-Kulturen gewesen sind, die uns die eigene Kultur verachten ließen, solange in der eigenen Kultur keine gleichrangigen Charmeure entdeckt worden sind, welche uns unsere eigene Möglichkeit eröffnen. Beispielsweise begeisterten mich als Dreizehnjähriger afro-amerikanische Gangsta-Rapper oder romantisierte italo-amerikanische Mafiosi – nur weil einige durch ihren Charme stärker gelockt haben als zeitgenössische Deutsche. Wie ich in dem Versuch über das Faszinierende in Gangsta-Epen ausgeführt habe, sind es die ästhetischen Werte wie Vitalität, Mut, Macht und Liebe, die viele Jugendliche in der Verirrung gesucht haben, und zwar im Bösen, das Größe hat, oder aber in Fremd-Kulturen, die unsere eigenen Möglichkeiten zum Teil verdecken.  

 

Ein Nachteil für den Charmeur hat sich also im Neid gezeigt, der nur konstruktiv wird, wenn sich die Fans mit dem Star identifizieren können, insofern es eine gewisse Ähnlichkeit gibt, in deren Bestform er uns übertrifft. Wenn ich mich andererseits mit einem Charmeur nicht identifizieren kann, entsteht nur dann kein Neid, wenn ich einen gewissen Charme durch eine passende eigene Kultur entwickelt habe. Insofern ist ein gewisser Nationalstolz auch immer wertgeschätzt worden, um nämlich als eigener charmanter Charakter von einem anderen charmanten Charakter wertgeschätzt werden zu können. Nur so ist echte Freundschaft auf Augenhöhe möglich. 

 

Ein weiterer Nachteil der charmanten Person kann neben dem Neid sein, dass sie sich nicht entwickelt. Wenn sie von den Fans immer bevorzugt wird, weil viele ein angenehmes Leben bei sich haben wollen, entsteht niemals die Not, etwas zu lernen. Einem charmanten Kind oder einer charmanten Frau flickt ein fremder Erwachsener immer gerne das Fahrrad, ohne dafür eine Gegenleistung zu fordern, da ihm die Anwesenheit schon Ausgleich genug ist. Vielmehr will der Helfende sogar den Begehrten von sich abhängig halten, damit er wiederkommt und er Macht über ihn hat. Dagegen wird der fremde Erwachsene einem weniger zauberhafte Kind höchstens schroffe Anweisungen geben, wie das Fahrrad gefälligst selber zu flicken sei. Mit der Zeit hat der weniger Attraktive gewisse Fertigkeiten entwickelt, während der chronische Charmeur es nicht einmal für nötig erachtet hat, hinzusehen, sodass er weder sein Fahrrad flicken noch seinen Computer installieren kann. Dasselbe Prinzip zieht sich durch alle möglichen, auch soziale, Kompetenzen. Er ist abhängig geblieben, hat sich an die Bevorzugung gewöhnt und scheitert tragisch, sobald ihn (durch die Spuren des Alterns) sein Charme langsam aber sicher verlässt. 



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