II. Die Wohlgeratenen

Sage zum Thema Kosmos

von  Terminator

Aus der Trichotomie des Apollinischen, Dionysischen und Chthonisch-Tellurischen wird bei Nietzsche de facto die Dichotomie des Dionysischen (Adligen, Vortrefflichen, Wohlgeratenen) und Chthonisch-Tellurischen (Gemeinen, Schlechten, Missratenen). Der Priester, der zwischen den Fronten steht, ist eine Verlegenheitsfigur, die aus dem Unverständnis des Apollinischen entstanden ist.


Die weltlich Erfolgreichen sind nach Nietzsche die Wohlgeratenen. Verglichen mit dem dummen, trägen, ängstlichen, feigen gemeinen Volk sind sie es auch. Das Volk beneidet die Großen und erklärt sie für böse. Der Kammerdiener kann nicht genug davon reden, dass Napoleon nur ein Mensch ist: er isst und trinkt, schläft und fickt, pisst und scheißt wie der Kammerdiener selbst. Darum: Friede den Hütten, Krieg den Palästen, wie Georg Bücher, der philosophierende Kammerdiener, das Ressentiment des Missratenen als Schlachtruf formuliert. Doch kein Kammerdiener wird die Armee der Kammerdiener anführen können: für eine Revolution bedarf es, so Vilfredo Pareto, einer Gegenelite.


Weltlicher Erfolg ist ästhetisch gut und moralisch neutral. Moralisch wird der Erfolg verwerflich, wenn er durch böse Taten zustande kommt. Böse ist nicht der Sieg gegen den Feind oder Konkurrenten, sondern die Verletzung der eigenen oder fremden Würde bzw. Integrität. Eine Schauspielerin, die sich den Superstar-Status am Schwanze des Weinstein erlutscht und ein Radiomoderator, der Kinder sexuell missbraucht, sind gleichermaßen böse: Hurerei verletzt die Würde der Menschheit in der eigenen Person, und Vergewaltigung verletzt die Würde der Menschheit in einer anderen Person. Religiös gesagt: was du den Unschuldigen antust, tust du Gott an. Verkaufst du deine Seele, gehörst du gleichermaßen in die Hölle.


Ja, auch der vortrefflichen heroischen Moral hängt der Makel des Sollens an, das gegen die Kraft des Faktischen scheinbar unterlegen ist. Aber nur scheinbar: denn viele Helden und Märtyrer haben das Faktische in der Geschichte der Menschheit radikal umgestürzt.


Der Missratene klagt, der Wohlgeratene kämpft. Wenn zum Wohlgeratensein notwendig der Sieg gehört, kann es stets nur einen Wohlgeratenen geben, und auch das nur für kurze Zeit. Der standhaft Kämpfende und heroisch Untergehende ist wohlgeraten, der jammernde und passiv aggressive Sklave, Diener, Lakaie, der "eigentlich dagegen ist", ist missraten.


Der Rahmen des Dionysischen wird durch die Dichotomie verabsolutiert, die tatsächliche Trichotomie zeigt aber, dass es zwiefach Wohlgeratene und Missratene gibt: im Leben und im Geist. Das Leben ist leicht, du musst es nur leben. Doch wenn du als lebenskluger, schlauer, weltlich erfolgreicher Mensch feststellst, dass du Kant oder Hegel nicht folgen kannst, und nicht, weil Philosophie bloß Quatsch, sondern weil du geistig minderwertig bist, dann gehörst du auch als Wohlgeratener nach Nietzsche zu den tatsächlich Missratenen.


Die Unfähigkeit im Geistigen macht die Starken hysterisch und aggressiv, sie wollen aus Ressentiment alles Geistige, alle Kultur kurz und klein schlagen, sie lachen über den sich selbst genügenden Philosophen, der ihrer weltlichen Dinge überhaupt nicht bedarf, wie geschminkte hässliche Weiber über die natürliche Schönheit einer wahrhaft schönen Frau. Bloße Kraft ist nicht gleich Wert. Auch der seit Menschengedenken versklavte Ochse hat Kraft: ein mittelmäßiger traurig dreinpflügender Ochse hat mehr Kraft als der stärkste Mann der Welt. Über die Maschine brauchen wir gar nicht reden, oder aber wir müssen sagen, dass der Übermensch konsequenterweise im "Transformer" oder einem autonomen Iron-Man-Anzug gesehen werden muss.


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Kommentare zu diesem Text


 Hamlet (05.03.23, 19:36)
Interessante, vor allem originelle Gedanken. Etwas unklar ist mir zurzeit noch:

Der Priester, der zwischen den Fronten steht, ist eine Verlegenheitsfigur, die aus dem Unverständnis des Apollinischen entstanden ist.

Ich weiß nicht, ob Nietzsche das Apollinische wirklich verkannt habe, zumal wir den Begriff besonders  aus seinem Frühwerk (Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik) kennen. 

Ich stimme aber zu, dass er den Priester einseitig dekonstruiert, insofern er durch geistige List mit den Wohlgeratenen um die Führung der sogenannten Missratenen konkurriert. Davon mag es einige geben. Wahrscheinlich nicht alle. Oder doch alle? Dann aber unbewusst? 

Jeder lebe unbewusst den Willen zur Macht nach seiner Möglichkeit aus. Die mächtigste Waffe des Priesters sei die geistige List: Gott und Schuldbewusstsein zu erfinden, das Ressentiment der Missratenen umzulenken, nämlich auf sie selber als Sünder usw., sodass sie sich geistige Führer suchen würden. Wird der spätmittelalterliche Investiturstreit (Papst-Kaiser) bedacht, wird der Aspekt des Willens zur Macht plausibel.

Andererseits sind sich viele Geistige und Mystiker dessen nicht bewusst, zumal sie wirklich an Gott geglaubt haben. Oder?



Kommentar geändert am 05.03.2023 um 19:37 Uhr

Kommentar geändert am 05.03.2023 um 19:38 Uhr

 Terminator meinte dazu am 05.03.23 um 23:07:
Der Priester steht ja einerseits für die höchste Kaste (Brahmanen, Lehrstand) und andererseits für einen Grenzfall zwischen dem Gesunden und Kranken bzw. dem Wohlgeratenen und dem Missratenen. Ist nur der Letztere gemeint, dann ist der Priester der Hüter der Sklavenmoral. Sein Verdienst um den Frieden zwischen den Wohlgeratenen und den Missratenen ist wertlos, denn die Wohlgeratenen herrschen ohnehin, wie sie wollen, und Härte oder Gnade ist ihre souveräne Entscheidung.

Dient der Priester den Wohlgeratenen, weil er den Missratenen Hoffnung macht, und sie dadurch am Leben hält, sodass die Wohlgeratenen Sklaven haben, die ihnen dienen? Ein müßiger Dienst, denn die Missratenen würden auch aus Angst vor dem Tod weiter leben.

 EkkehartMittelberg (05.03.23, 19:49)
Ein brillanter Text mit mehreren Aphorismen. Dieser gefällt mir besonders:
"Hurerei verletzt die Würde der Menschheit in der eigenen Person, und Vergewaltigung verletzt die Würde der Menschheit in einer anderen Person."

 Terminator antwortete darauf am 05.03.23 um 23:08:
Dass Würde ein ästhetischer Wert ist, und keinem Menschen automatisch zukommt, werde ich noch explizieren.
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