Notizen, die ich beim Aufräumen fand: Im Hörsaal

Tagebuch zum Thema Erinnerung

von  tulpenrot

Da sitzen wir mit unseren Hörgeräten im Hörsaal der altehrwürdigen Universität, sehen schlecht, haben graue Haare und tun ernsthaft interessiert. Manche von uns schreiben die Vorlesung mit, aber nicht alle. Wir sind nur Gasthörer, das bedeutet: Wir sind nur Gäste, keine "echten" Studenten und machen keine Prüfungen. Wir haben auch keinen Zugang zum Internet und den darin abgelegten Unterlagen der Professoren, weil uns die Zugangsdaten fehlen, können also nicht alles abrufen, was nötig wäre für ein regelrechtes Studium. Wir polieren bestenfalls unser Unwissen etwas auf, verbergen unseren Unverstand und geben uns möglichst keine Blöße. Irgendwie kommen wir nur mühsam mit, weil wir unseren verbrauchten und lange nicht geübten Gehirnen zu viel und zu schwere Kost zumuten. Wozu das Ganze? Um unsere Einsamkeit zu überbrücken? Um unsere Lernbereitschaft zu demonstrieren? Um mitreden zu können? Vielleicht auch aus Interesse an den dargebotenen Themen? Jeder von uns hat sein eigenes Ziel.

Der Professor beendet seine Vorlesung. „Schwierig“, sage ich zu meinem Sitznachbarn. Aber er erwidert nichts, steht auf und geht in die Cafeteria. Ein bisschen verstehe ich seinen Entschluss. Ich will auch nicht immer gleich zu allem meine Meinung sagen müssen, sondern möchte oft zuerst in aller Ruhe über das Gehörte nachdenken dürfen, ohne dass ich mich mit den Gedanken eines anderen "zupappen" lassen will.

Ich bin müde, ein Mittagsschlaf täte gut. Doch jetzt kommt der nächste Professor herein. Mein Sitznachbar erscheint auch wieder, hat sich mit Kuchen und Kaffee eingedeckt. Dabei ist das Essen und Trinken im Hörsaal verboten. Ich sage nichts und ärgere mich still vor mich hin über die Unverfrorenheit. Die Unterhaltung im Saal wird gedämpfter, der Professor hat den Saal betreten. Ich betrachte fasziniert seine Kleidung: eine Edeljeans in hellem Jeans-Blau mit Löchern am Knie, ein blauweiß gewürfeltes Hemd, dunkelblaues Jackett. Trendy und chic? Er ist erst kürzlich zum dritten Mal Vater geworden.

In der Vorlesungspause belagern ihn die „alten Knacker“, denke ich zynisch, und die jungen Studenten haben keine Chance in der begrenzten Zeit auch noch zu Wort zu kommen oder gehört zu werden. Ich finde das rücksichtslos von den Alten. Da schimpft man über die egoistischen jungen Leute, aber selbst ist man nicht besser. Dabei hatten wir Alten unsere Zeit gehabt in jungen Jahren. Jetzt sind die Jungen dran, es geht doch um deren Zukunft, bei uns geht es um nichts oder um verpasste Chancen, um die Vergangenheit. Wir dürfen den Jungen den Platz nicht wegnehmen. Leider kann ich auch den Professor nicht verstehen, dass er sich von den Alten so belagern und einwickeln lässt.

Einmal hat ein Professor einen Vortrag unter dem Titel „Vom Ich zum Wir“ gehalten. Er wurde darauf aufmerksam gemacht, dass dies vordem ein Motto in der DDR war, um LPGs zu gründen. Das sei unpassend für eine theologische Erörterung, fand der Kritiker. Der Professor antwortete: „Wir hatten eine segensreiche Zeit“. Was er damit meinte, blieb für mich offen. Jedenfalls fand ich die Antwort unpassend, weil sie in keiner Weise auf den Einwurf angemessen reagierte. Schwierig.

Pause vor dem nächsten Vortrag. Es ist halb dunkel im Hörsaal. Jemand spielt für eine kleine Weile auf dem Flügel, der noch von einer anderen Veranstaltung da steht, unterhaltsam, fröhlich und unbeschwert. Dann klappt er ihn wieder zu. Mein ehemaliger Sitznachbar hat sich inzwischen umgesetzt. Er sitzt jetzt hinter mir, mir sozusagen im Nacken. Es stört mich, ihn so nah zu wissen. Er hat so etwas unappetitlich Graues und Unsauberes an sich. Warum sitzt er hier überhaupt, wenn er doch nicht zuhört, auch nicht während der Vorlesung mitschreibt, sondern sich mit seinem Handy beschäftigt? Eigentlich könnte er doch wegbleiben.

Der neue Professor hat kein Benehmen. Er hat doch tatsächlich seine Armbanduhr und sein Vorlesungsmanuskript auf den Flügel gelegt! Am liebsten würde ich ihn lauthals belehren: Ein Flügel ist ein Instrument und kein Ablagetisch! Irgendwie wird mein - sicher veraltetes - Bild von einem Professor gerade gründlich zerstört. Und das von einem alternden Studenten auch.

 



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Kommentare zu diesem Text


 Dieter Wal (05.03.23, 18:38)
Studierte erst Ende 20 und konnte daher mit den wenigsten gerade 18-jährigen Studenten viel anfangen. Daher unterhielt ich mich bevorzugt mit Senioren-Studenten. Deine Erinnerungen sind frischer. Meine Studienzeit begann vor 30 Jahren. Danke für die stimmungsvollen Notizen.

Dass die Autorin kein Internet hatte, wirkt allerdings beim Lesen in einem Internetforum wenig überzeugend. ;)

 tulpenrot meinte dazu am 05.03.23 um 19:40:
Nee, so ist das nicht gemeint mit dem Internet. Sondern 1. Ich hatte damals noch keinen Laptop, mit dem ich im Hörsaal hätte hantieren können bzw mich einloggen konnte, sondern nur zu Hause einen PC. Und 2. bekamen wir Gasthörer keinen Zugangscode zu den weiterführenden Unterlagen des Professors, die wir uns hätten herunterladen oder ausdrucken konnten. Ich glaube aber, dass sich das inzwischen zugunsten der Gasthörer geändert hat.
Ja, meine Erinnerungen stammen aus der Zeit von 2012 bis 2019.
kipper (34) antwortete darauf am 06.03.23 um 09:47:
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 tulpenrot schrieb daraufhin am 06.03.23 um 10:03:
Ich verstehe den Kommentar zwar nicht - aber danke trotzdem.
tulpenrot

 EkkehartMittelberg (06.03.23, 13:19)
Hallo Tulpi,

der Besuch von Vorlesungen hält fit. Ich habe freilich schon während meiner Studienjahre Bücher gegenüber Vorlesungen bevorzugt, weil ich das Tempo der Wahrnehmung selbst bestimmen konnte.

LG
Ekki

 tulpenrot äußerte darauf am 06.03.23 um 18:18:
Hallo Ekki,

danke für deine Worte und die Empfehlung.
Leider ist mein ausführlicher Rekommentar "im Orkus" verschwunden - war gut gemeint, aber es ist besser so. Ich neige leider zur Geschwätzigkeit - das Alter, du weißt. Und ich muss ja nicht jeden so zutexten.

Also: Hauptsache, du bleibst mir gewogen!  
Viele Grüße
Tulpi

 AchterZwerg (06.03.23, 17:40)
Liebes Tulpenrot,

da lob und ich mir doch Frankfurt am Main,
hier gibt es keinen Unterschied zwischen der Universität des 3. Lebensalters und den üblichen Studiengängen.
Es besteht auch der gleiche Zugang zur Universitätsbibliothek und allen anderen Einrichtungen des universitären Lebens.,
Gasthören ist jedoch nicht in allen FBs erlaubt; was ich verständlich finde. Es geht wohl nicht an, für manche Studiengängen den Numerus clausus zu verfügen und andererseits pensionierten Postbeamten die Türen zu öffnen.
Möglich ist dies jedoch in Absprache mit den jeweiligen Professoren - praktisch erfahrbar nur in eher exotischen Studiengängen.
Nach meiner Verrentung bin ich sofort zu den Literaturwissenschaftlern (Schwerpunkt Lyrik) gestürzt - das hat mich sehr bereichert, ist aber leider durch Corona ausgebremst worden.

Die Verhaltensmuster "älterer Semester" hast du sehr treffend beschrieben. Es fehlen eigentlich nur die (meist männlichen) Vielschwätzer.
Alles ehemalige Germanisten - na klar ... 8-) 

Lächelnde Grüße
der8.

 tulpenrot ergänzte dazu am 06.03.23 um 18:45:
Lieber 8.

da hast du also gute Erfahrungen gemacht in Frankfurt. Das mit dem Numerus clausus ist an mir vorbeigegangen. In meinem Fachbereich waren alle Vorlesungen frei zugänglich, nur bei den Seminaren oder Praktika gab es Zugangsbeschränkungen für Gasthörer.

Ich hatte ursprünglich vor, noch eine akademische Zusatzqualifikation (Magister, in Theologie) zu erwerben, und war zunächst "ordentlicher Student" (Theologie und Germanistik), aber meine Gesundheit machte nicht mit. So schrumpften meine "edlen Ziele". Auch das Gasthörerdasein musste ich aufgeben. Leider.

Liebe Grüße und Dank
tulpenrot
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