VII. Die Vortrefflichen

Hymne zum Thema Wahrhaftigkeit

von  Terminator

Bin ich als Wohlgeratener schon vortrefflich? Ich denke, es wäre klüger, zwischen "wohlgeraten" und "vortrefflich" einen pädagogischen Hiatus klaffen zu lassen. Was will ich als Wohlgeratener? Vortrefflich sein.


Es ist, als läse ich ein Buch, und könnte nicht aufhören, weiterzulesen, nur dass ich es gerade nicht lese, sondern schreibe. Ich bin in meinem Element. Die schon bekannte Moralkritik Nietzsches ließ mich als scheinbar erledigte Sache lange kalt, bis ich ein Buch von Johan Huizinga las, der in den 1930-ern den Vitalismus, den Kult um das (bloße) Leben und den damit einhergehenden Niedergang der Vernunft analysierte. Da dämmerte mir, dass erst mit der Altersschwäche der (geistigen) Hochkultur das (naturhafte) Leben zum Ideal werden konnte, wo es früher selbstverständlich war. So wie früher erst bei echter Schönheit Frauen und Männer als vortrefflich hervorgehoben wurden, während die heutigen Stuten und Hengste bereits für bloße Gesundheit verehrt werden (Models, Instagram- und Pornostars).


Ich bin Philosoph, Denker. Dass mein Körper gesund ist und gut funktioniert, ist eine Selbstverständlichkeit, von der ich ausgehe, und die ich wiederherstelle, falls dem mal nicht so ist. Ich lebe gesundheitsbewusst, mache aber keinen Gesundheitskult daraus. Ich trainiere; ich ziehe mich adrett an, ich trage Parfüms von Tom Ford. Ich genieße viel, bin aber kein Hedonist. Die Hauptsache bleibt die Leidenschaft des Denkens, die, gegen Kant, Lust und Pflicht zugleich ist. Ich will denken und das verpflichtet mich moralisch, Denker zu sein. Ich will besser denken, ein besserer Denker sein. Das zeigt sich auch daran, welche Beleidigungen mir nahe gehen. Bei "Impotent" zucke ich mit den Schultern, bei "Dummkopf" zucke ich zusammen.


Die Vortrefflichen sind durch ihren eigenen Willen bestimmt, während die Gemeinen durch den Willen anderer (oder das Schicksal oder den Zufall) bestimmt sind. Die Vortrefflichen tragen Verantwortung für ihr Geschick, für das Schicksal der Gemeinen ist "die Welt" verantwortlich.


Die Gemeinen sind wiederum nicht zwangsläufig missraten. Obschon es ein ästhetisches Vergehen ist, von wohlgeratenen Gemeinen zu sprechen, muss bescheidenen, mit wenig zufriedenen, freundlichen und fleißigen Frauen und Männern aus dem einfachen Volk Respekt gezollt werden. Wenn der Ochse kein Löwe sein will, ist er kein gemeiner Ochse mehr, sondern ein respektabler Stier.


Der Vortreffliche ist eine Persönlichkeit, keine "Farbrikware Mensch" (Schopenhauer). Die Vortrefflichen sind daher einzigartig und trotz allen Ehrgeizes zu aufrichtiger Anerkennung anderer fähig. Der Neid hält sich aufgrund hoher Differenziertheit in Grenzen. Die "Fabrikware Mensch" gleicht sich jedoch wie die Murmeln aus derselben Glasmanufaktur; jedes Herausstechen aus der Masse erzeugt bei den Gemeinen Neid und Argwohn.


Der Vortreffliche weiß, dass die Ausdifferenzierung und Entwicklung einer Meisterschaft nur auf Kosten anderer Errungenschaften gehen kann. Der Wohlgeratene ist nicht erst dann wohlgeraten, wenn er ein Hansdampf in allen Gassen ist: er findet seine Identität und baut das ihm körperlich und geistig Gegebene um diese herum. Du kannst ein Schloss, ein Tempel, eine Burg, eine Kathedrale oder ein Stadion sein, aber nicht alles zugleich. Der Missratene ist an sich überhaupt nichts, er nimmt wie Wasser die Form des Gefäßes an, in welches er vom "Leben" gegossen wird.



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Kommentare zu diesem Text


 Hamlet (14.03.23, 20:43)
Um nur eine treffliche Metapher zu loben bezüglich dessen, dass nicht nur die Löwen unter den Menschen zu den Wohlgeratenen gehören:
Wenn der Ochse kein Löwe sein will, ist er kein gemeiner Ochse mehr, sondern ein respektabler Stier.

 harzgebirgler (10.12.23, 11:03)
sinn für die erste garnitur zu haben
zählt selten zu des mittelmaßes gaben.
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